Fahrenheit 9/11 [2004]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 03. August 2004
Genre: Dokumentation

Originaltitel: Fahrenheit 9/11
Laufzeit: 122 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2004
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Michael Moore
Musik: Jeff Gibbs
Darsteller: Michael Moore, George W. Bush, Condoleezza Rice, Donald Rumsfeld, Dick Cheney, Saddam Hussein, Osama bin Laden, Colin Powell, James Baker III, James Bath, Paul Wolfowitz, Bill Clinton


Kurzinhalt:
Dokumentarfilmer Michael Moore recherchiert, wie die ersten acht Monate der Amtszeit von US-Präsident George W. Bush verlaufen sind, und dieser in das Amt bereits auf zwielichtige Weise gelangt war.
Doch als der 11. September 2001 die Welt erschütterte, änderte sich über Nacht alles. Wenig später wurde den US-Vollzugsbehörden bedeutend mehr Macht zum Ausspionieren der Bürger eingeräumt und manche Firmen, bei denen unter anderem Vize-Präsident Dick Cheney nachweislich involviert ist, verdienen sich an den Kriegen in Afghanistan und Irak bis heute eine goldene Nase. Terroristenführer Osama bin Laden ist hingegen immer noch nicht gefasst und auch Saddam Hussein konnte weder eine Verbindung zu den Anschlägen des 11. September, noch der Besitz von Massenvernichtungswaffen nachgewiesen werden – aber hat die US-Regierung den Irak überhaupt deshalb angegriffen? Was und wer steckt hinter dem Krieg gegen den Irak, den die USA mit ihren Alliierten noch immer nicht gewonnen haben?
Die Antworten, die Michael Moore mit Beweisen liefert, sind überraschend, erschütternd und bisweilen auch brandgefährlich.


Kritik:
Der am 23. April 1954 in Flint, Michigan geborene Michael Moore ist zweifelsohne das, was die amerikanischen Behörden einen unliebsamen Bürger nennen. Nicht nur, dass er sich über seine Rechte im Klaren ist, er kann es anscheinend auch nicht lassen, andere darauf hinzuweisen, dass sie dieselben Rechte besitzen.
Sein Buch Stupid White Men, in dem er gegen die Vetternwirtschaft in der US-Administration und die himmelschreienden Ungerechtigkeiten der Zwei-Klassen-Gesellschaft wettert, war wochenlang auf Platz eins der Bestsellerlisten, und obgleich er mit seinem oscarprämierten Dokumentarfilm Bowling for Columbine [2002] gegen die Waffengesetze der USA protestiert, ist er eingetragenes Mitglied der National Rifle Association, der größten Waffenlobby in Amerika – mit der Absicht, sich als Präsident des Vereins wählen zu lassen und sich dann für ein Verbot des freien Waffenbesitzes einzusetzen.
Inzwischen lebt Moore mit Frau und Tochter in New York City, und obgleich sein neuester Film Fahrenheit 9/11 unter anderem den Menschen gewidmet ist, die am 11. September 2001 bei den Anschlägen auf das World Trade Center ums Leben gekommen sind, sah es lange Zeit so aus, als würde der Film gar nicht in die Kinos kommen. Grund hierfür war die Verleihfirma Disney; als Moore von David Letterman gefragt wurde, weswegen Disney den Film denn zurückhalten würde, antwortete er, "sie haben ihn gesehen".
Im Mai 2004 erhielt Fahrenheit 9/11 als zweite Dokumentation überhaupt beim Filmfestival in Cannes die Goldene Palme und überdies den längsten Applaus, den es angeblich bislang für einen Film dort zu hören gab. Das Studio Miramax, das Moores Dokumentation produzierte, kaufte für viel Geld die Veröffentlichungsrechte von Disney zurück und brachte Fahrenheit 9/11 in die US-Kinos – die sechs Millionen Dollar teure Produktion spielte in den ersten fünf Wochen allein in den Staaten 110 Millionen Dollar ein und ist damit der erfolgreichste Dokumentarfilm aller Zeiten.
Kein Wunder, dass Moore sich in einem Interview äußerte, er habe nichts dagegen, wenn die Leute Fahrenheit 9/11 aus dem Internet herunterladen würden, immerhin habe er schon genug daran verdient und wolle, dass so viele Menschen wie möglich diesen Film sehen. Auch die Vorsitzenden von Miramax bekundeten, sie würden niemanden strafrechtlich verfolgen, der sich den Film auf den heimischen PC holt. Die amerikanische Filmindustrie war davon verständlicherweise wenig begeistert.
Die schon im Oktober erscheinende DVD wird allerdings eine neue Szene beinhalten, was angesichts der Tatsache, dass Michael Moore die Schilderungen in seiner Dokumentation auf dem neuesten Stand halten möchte, durchaus Sinn macht. Er versprach im Vorfeld, dass "Amerikaner in diesem Film Dinge sehen werden, die sie nie zuvor gesehen haben". Und damit hat er sicher recht.

Wie jeder persönlich dem amerikanischen Präsidenten George W. Bush gegenüber steht, sei dahingestellt. Dass er durch unlautere Machenschaften und eine fast schon kriminelle Passivität seiner politischen Opposition an die Macht kam, steht außer Frage. Zum Präsidenten wurde er letztlich nicht vom Volk ernannt, sondern vom obersten Gerichtshof. Und daraus, dass Michael Moore es sich zum Ziel gesetzt hat, Bushs Wiederwahl zu verhindern, macht der Filmemacher auch keinen Hehl; bei Fahrenheit 9/11 handelt es sich gewissermaßen um einen Wahlkampf-Film gegen die derzeitige amerikanische Regierung – nicht jedoch, wie viele ihm vorwerfen, um einen Hassfilm gegen Bush persönlich.
Seine Ziele versteckt Moore nicht; er trägt sie offen vor und bedient sich dabei einem für Dokumentationen typischen und durchaus legitimen Stilmittel, denn obwohl alle Fakten, die im Film gezeigt werden (und davon kann man bei den vielen "Fact-Checkers", die im Abspann aufgelistet werden und ansich für seriöse Tageszeitungen arbeiten, ausgehen) stimmen, unterschlägt Moore bei manchen Beschreibungen immer wieder Kleinigkeiten, die zwar seine Mission nicht unbedingt kompromittieren, aber den gewünschten Effekt vielleicht herunterspielen würden. Da schildert er beispielsweise, dass die USA mit einer "Großen" Koalition in den Krieg gegen den Terror gezogen sind, darunter Länder wie Marokko, Holland und Island – dass mit Großbritannien tatsächlich ein truppenstarker Alliierter Teil der Koalition war, verschweigt Moore jedoch, der britische Premierminister Tony Blair ist in den ganzen zwei Stunden auch nur einmal kurz zu sehen.
Dass Michael Moore trotzdem keinen effekthaschenden Film in die Kinos brachte, merkt man schon am Aufbau seines Werkes, der nicht nur dezent, sondern auch wohl überlegt gelungen ist. So fängt Fahrenheit 9/11 mit einem Rückblick auf die ersten acht Monate der Amtszeit von George W. Bush (seit Dezember 2000) an, zeigt den Präsidenten beim Fischen, Golfen und Tontaubenschießen. Tag für Tag nähert sich Moore einem Datum, das jedem aufmerksamen modernen Menschen im Gedächtnis haften geblieben ist.
Und wenn man den amerikanischen Präsidenten am 10. September 2001 zu sehen bekommt, ahnt man als Zuschauer, was in Kürze folgen wird. Doch Michael Moore zeigt den Anschlag nicht, jenen terroristischen Angriff auf die beiden Türme des World Trade Centers, der beinahe 3000 Menschen das Leben kostete, unzählige Familien zerriss. Stattdessen hört man als Zuschauer die Geräusche, die sich vor knapp drei Jahren in das Gedächtnis der Menschen gebrannt haben, die ohrenbetäubenden Explosionen, die um Hilfe schreienden Menschen, die in den oberen Stockwerken eingeschlossen sind und schließlich das Ächzen von Metall und das Zusammenbrechen der Türme. Ohne Bild.
Wer am 11. September 2001 die Liveberichterstattung im Fernsehen gesehen hat, trotz der riesigen Entfernung miterlebte, als die Türme in sich zusammenfielen, braucht keine Bilder, um an diesen Schockmoment erinnert zu werden. Es schnürt einem die Luft ab, die Geräusche erneut zu hören, Erinnerungen blitzen auf, wie das zweite Flugzeug in den Turm raste, und wie in einer fast schon gespenstischen Wolke die Türme in sich zusammenbrachen.
Stattdessen zeigt Moore die Gesichter der Menschen am Boden, wie sie fassungslos mitansehen müssen, was sich vor ihnen abspielt. Dass er das Ereignis erwähnen, in seine Dokumentation mit einbauen musste, ist jedem klar; dezenter und würdiger, ohne die Wunde erneut aufzureißen, hätte er es jedoch nicht tun können und dafür darf man ihm dankbar sein, und seine Reife und seine Einsicht bewundern.
Auch unterstellt er der US-Regierung im Folgenden keine Verbindung zu den Terroristen, die jenes Verbrechen begangen haben, er wirft der Bush-Administration stattdessen vor, Berichte von FBI und CIA ignoriert zu haben, und diese unverständlichen Entscheidungen sind belegt. Überraschenderweise verurteilt Moore auch nicht den Krieg und den Einmarsch der US-Truppen in Afghanistan, stattdessen wird angekreidet, dass die Streitkräfte ganze zwei Monate benötigten, um zum vermeintlichen Unterschlupf von Osama bin Laden zu gelangen, so dass der Terroristenführer (der bis heute nicht gestellt ist) genug Zeit hatte, zu fliehen. Überdies beschäftigt sich Fahrenheit mit dem Bericht der Kommission, der von der Regierung zensiert wurde, und damit, dass die USA dem Irak den Krieg erklärten, obwohl dort weder Massenvernichtungswaffen gefunden wurden, noch der Irak eine Bedrohung für Amerika darstellte. Dafür bestanden die US-Streitkräfte großteils aus Kindern, die nach Bagdad geschickt wurden und sich mit Rockmusik im Panzer in die richtige Stimmung bringen wollten, um dann die Hauptstadt des Irak zu bombardieren. Moore stellt den wahren Kriegsgrund im Irak bloß, die Profitgier der Firmen, die daran am meisten verdient haben. Er zeigt das Elend der Menschen im Kriegsgebiet (auch ihnen und den gefallenen US-Soldaten ist der Film gewidmet), die Fixierung der Truppen auf das Öl und die Rekrutierungen der US-Army in den Armenvierteln der USA, wo Freiwillige für die Frontlinie gesucht werden, die sich für nichts und wieder nichts abschlachten lassen sollen, während der Präsident mit seinen Wahlkampfspendern Partys feiert. All das kann Moore belegen, er rekapituliert die Ereignisse seit dem 11. September und verdeutlicht auch mit persönlichen Schicksalen von Hinterbliebenen der gefallenen US-Soldaten, dass weitaus mehr Truppen der Alliierten getötet wurden, als es einem die US-Medien weismachen wollen.
Die Struktur von Fahrenheit 9/11 ist dabei anspruchsvoll und doch nachvollziehbar, er folgt seiner chronologischen Berichterstattung und verlässt immer wieder den Erzählfluss, um im Rückblick Hintergründe zu erklären, Verstrickungen der Regierungshöchsten Bush, Dick Cheney und Donald Rumsfeld, die an dem Krieg alle gut verdient haben. Dass der Regisseur trotzdem nicht in ein hirnloses Hasspredigen gegen die Regierung verfällt, sondern stattdessen Bild und Ton für sich sprechen und den Zuschauer die Korruption und die Verwicklungen selbst erkennen lässt – und trotz der Darstellung der am Boden zerstörten Mutter, die ihren im Irak als Soldat dienenden Sohn verloren hat, nicht reißerisch den Zuschauer mit den Emotionen überschwemmt –, spricht für die künstlerische Klasse, die Michael Moore inzwischen erreicht hat, eine Reife, die man auch seinem Buch Stupid White Men noch nicht in diesem Maß angemerkt hat.

Inszenatorisch sind sowohl die selbst gedrehten Aufnahmen, als auch die Bildcollagen sehr gut gelungen und wirken in jedem Moment durchdacht. Die krassen Gegensätzlichkeiten, die Moore immer wieder aufzeigt, verdeutlichen geschickt seinen paradox erscheinenden Inhalt, und dank der wirklich bewegenden, bisweilen witzigen aber gerade in der zweiten Hälfte sehr ernsten und dezenten Musik von Jeff Gibbs erzeugt Fahrenheit in kürzester Zeit eine gute Atmosphäre, die dem Erzählfluss angemessen ist.
Die gesungenen Lieder sind dabei hin und wieder provokativ gewählt und untermalen die Stimmung, die die Bilder beim Zuschauer hervorrufen sollen. Hier hätte man schlicht nichts besser machen können.

Ein Interview, das Regisseur Moore mit dem Amerikaner Nicholas Berg geführt hat, wurde in die Endfassung des Films nicht übernommen – Berg wurde später von Terroristen im Irak entführt und ermordet. Das Interview, so versichert Moore kommt der Familie von Nicholas Berg zu und wird seinerseits nicht veröffentlicht werden.
Für Aufsehen sorgte vor dem US-Kinostart die Freigabe des Films in den USA, wo Fahrenheit 9/11 erst ab 17 Jahren freigegeben wurde. In Deutschland darf die Vorstellung zwar ab 12 Jahren besucht werden, allerdings ist diese Entscheidung mehr als nur unverständlich. Angesichts von gezeigten Enthauptungen, Leichenschändungen, stark verletzten Kriegsopfern und allein aufgund der Thematik des Dokumentarfilms ist der Film für Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet. Ganz ohne Zweifel bekommt man heute in den Nachrichten nicht weniger schlimme Bilder zu sehen, besser macht es das aber auch nicht.

Fahrenheit 9/11 bringt die Gemüter bisweilen zum Überkochen; Michael Moores Dokumentation hat es sich zum Ziel gesetzt, den Bush-Clan, der nun schon in zweiter Generation seine Machtspielchen in der Pennsylvania Avenue 1600 zelebriert, aus dem Weißen Haus zu vertreiben. Und doch hat man das Gefühl, Moore würde erneut so handeln, würde sich eine andere, ähnlich dubiose Regierung an der Spitze des Staates einnisten und die Menschen ins Unglück stürzen; von einer persönlichen Hetzkampagne gegen George W. Bush kann hier eindeutig nicht die Rede sein.
Als Dokumentation selbst entblättert der Filmemacher viele Machenschaften, Geldschiebereien und Gefälligkeiten, die hinter dem Vorhang stattfinden; eine Beweiskette, die er belegen kann. Die Verbindungen, die Moore zwischen den Bushs und bin Ladens zieht, sind erwiesen und werden von der US-Regierung so gut es geht unterdrückt. Man kann nur hoffen, dass dem amerikanischen Volk angesichts dieses sehenswerten, weil hervorragend choreographierten und exzellent vorgetragenen, bewegenden und verblüffenden Enthüllungsjournalismus die Augen aufgeht.


Fazit:
Am Inhalt von Fahrenheit 9/11 gibt es – zur Verzweiflung der amerikanischen Regierung – nichts zu rütteln, an der künstlerisch anspruchsvollen und auch angemessen zurückhaltenden Inszenierung ebenso wenig.
Zwar zählen die Szenen, in denen Regisseur Michael Moore selbst vor der Kamera zu sehen ist, zu den schwächeren, der Aufbau und der Erzählrhythmus, den er für seinen Dokumentarfilm gewählt hat, ist jedoch zweifelsohne brillant und die zwei Stunden vergehen wie im Flug.
Hätte Moore den derzeitigen US-Präsidenten nur bloßstellen wollen, hätte er seine peinlichsten Versprecher und öffentliche Ignoranz-Outings präsentieren können, von denen es wahrlich viele gibt, stattdessen geht er aber auf die korrupten Machenschaften hinter der Regierung ein, zeigt die seit Jahren anhaltende Vetternwirtschaft und ihre fatalen Folgen und stellt überdies die angeblich gestiegenen Sicherheitsvorkehrungen seit dem 11.09.2001 zur Schau, denen es zu verdanken ist, dass im gesamten Küsten-Bundesstaat Oregon (mit einer Größe von 254.819 Quadratkilometern!) nur ein einziger State Police-Officer seine Runden im Auto dreht.
Es ist eben das Land mit den unbegrenzten Möglichkeiten, wie schon die "Wahl" von George W. Bush bewiesen hat.