Encanto [2021]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 15. November 2021
Genre: Animation / Fantasy / Komödie

Originaltitel: Encanto
Laufzeit: 99 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2021
FSK-Freigabe: noch nicht bekannt

Regie: Jared Bush, Byron Howard, Charise Castro Smith
Musik: Germaine Franco
Stimmen: Stephanie Beatriz, John Leguizamo, María Cecilia Botero, Diane Guerrero, Jessica Darrow, Angie Cepeda, Wilmer Valderrama, Carolina Gaitán, Mauro Castillo, Adassa, Rhenzy Feliz, Ravi-Cabot Conyers, Maluma as Mariano, Alan Tudyk


Kurzinhalt:

Vor einem halben Jahrhundert floh die Großmutter der Familie Madrigal (María Cecilia Botero) mit ihren drei Neugeborenen aus ihrer Heimat. Inmitten der Natur, als die Not am größten war, wurden ihr und ihren Kindern durch die Kraft einer magischen Kerze besondere Fähigkeiten verliehen. Jedes neu geborene Mitglied der Familie hat seither solche magischen Kräfte bekommen und um das selbst verzauberte Haus der Madrigals hat sich eine Gemeinschaft gebildet, die auf die Fähigkeiten der Familie angewiesen ist. Doch dann geschieht das Undenkbare, die junge Mirabel (Stephanie Beatriz) erhält als einzige keine magische Fähigkeit und fühlt sich in dieser Familie, in der alle ihre Großmutter durch ihre besonderen Talente stolz machen, verloren. Als ein weiteres, junges Familienmitglied seine Fähigkeit verliehen bekommen soll, beobachtet Mirabel etwas, das sie glauben lässt, das Haus der Familie Madrigal und die Magie der nie erloschenen Kerze wären in Gefahr. So macht sie sich auf, die Magie zu retten und stößt dabei auf ihren ausgestoßenen Onkel Bruno (John Leguizamo), der über seherische Fähigkeiten verfügt und bereits vor langer Zeit eine solche Katastrophe vorhergesagt hatte …


Kritik:
Insbesondere ein älteres Publikum wird erkennen, dass die Gesangseinlagen im 60. Kinofilm der Disney Animation Studios hauptsächlich deshalb Teil der Erzählung sind, weil das Studio damit das nächste, erfolgreiche Bühnenmusical vorbereiten kann. Trotz ihrer eingängigen Präsentation, sind die Songs wohl die offensichtlichsten Kritikpunkte. Aber auch dank ihnen ist Encanto ein ebenso lebendiges wie rhythmisches Märchen für die und über die ganze Familie. Was kann es gerade jetzt Schöneres geben?

Es wird erzählt aus Sicht der jungen Mirabel Madrigal, die die Familiengeschichte von ihrer Großmutter, ihrer Abuela, schon oft erzählt bekam. Wie die zusammen mit ihren drei Babys und Mirabels Großvater vor einem halben Jahrhundert in diese Gegend des Landes geflohen war und ihre alte Heimat verloren hatte. Und hier, an diesem Ort, hat eine magische Kerze ihr und ihren Kindern besondere Fähigkeiten verleihen. Selbst das Haus, in dem die Kerze aufgestellt ist, ist magisch und besitzt eine eigene Persönlichkeit. Um dieses neue Zuhause hat sich eine Gemeinschaft gebildet, die sich auf die besonderen Fähigkeiten der Familie Madrigal verlässt. Mirabels Schwester Luisa ist so stark, dass sie ganze Berge mit einer Hand tragen könnte. Ihre andere, Isabela, scheint immer perfekt, macht alles richtig und kann überall Blumen wachsen lassen. Andere Familienmitglieder können das Wetter beeinflussen, ihre Gestalt verändern oder mit Tieren sprechen. Eine Fähigkeit erhalten neue Familienmitglieder, wenn ihnen ein eigenes Zimmer in dem großen, einladenden Haus gegeben wird. Abuela und die Familie veranstalten dazu ein Fest, zu dem die ganze Gemeinschaft geladen ist. Doch als Mirabel an der Reihe war, hat sie keine magische Fähigkeit verliehen bekommen.

Die offensichtlichsten Themen von Encanto arbeiten die Verantwortlichen Regisseurinnen bzw. Regisseure Jared Bush, Byron Howard und Charise Castro Smith bereits früh im Film heraus. Zu sehen, welcher Druck auf Mirabel lastet, die als einzige in ihrer Familie keine besondere Fähigkeit besitzt, von dem Familienoberhaupt der Großmutter aber immer wieder zu hören bekommt, dass man die Familie durch diese besonderen Fähigkeiten stolz machen soll, hält uns als Gesellschaft so anschaulich wie unverblümt einen Spiegel vor. Wie stark wir uns über Leistung definieren, wie immer neue Talentshows unterstreichen, dass nur Besonderheiten die Menschen auszeichnen würden. Mirabel hat das Gefühl, nur sie selbst zu sein, reiche nicht aus, umso mehr, da ein neues Familienmitglied kurz davor steht, seine Fähigkeit zu bekommen. Dass sie dennoch lebensfroh auftritt, eine geradezu ansteckende Fröhlichkeit besitzt, zeichnet ihre Figur noch mehr aus. Bei der Zeremonie sieht sie Anzeichen, dass etwas Schlimmes mit dem Haus der Familie Madrigal geschieht, das sogar die Magie selbst in Gefahr bringt. So macht sie sich auf, die Magie zu retten, deckt dabei die Ängste und Wünsche auch ihrer schillernden Schwestern auf und begibt sich auf die Suche nach ihrem wahrsagenden Onkel Bruno, der schon lange von der Familie ausgeschlossen wurde.

Es ist ein Märchen, das spürbar von lateinamerikanischen Werten und Stilrichtungen geprägt ist, in dem man sich aber auch ohne eine Kenntnis derselben mühelos zurechtfindet. Encanto etabliert die Magie, die der Film in jedem Moment versprüht, wie einen Bestandteil des alltäglichen Lebens. Das gelingt so sehr, dass es gar nicht überrascht, wenn das Haus selbst Mirabel beim Versuch der Rettung der erlöschenden Magie hilft. Die Erzählung wirkt so reich an Facetten und überlieferter Kultur, dass es nicht nur eine Freude ist, sich darauf einzulassen, es scheint auch an jeder Ecke etwas zu entdecken zu geben. Das Design des Hauses, der Umgebung und nicht zuletzt der Figuren ist so einladend, so natürlich und warmherzig, es ist eine Freude, zuzusehen. Insbesondere Mirabel mit ihren lockigen Haaren und ihrem geradezu wuseligen Temperament schließt man sofort ins Herz.

Wirkte Pixars letzter Film Luca [2021] in manchen Bereichen recht karg, womöglich auch darauf zurückzuführen, dass viele der Animationsteams von zuhause arbeiteten, sprüht Encanto förmlich vor Energie. Die Natur, die Charaktere und der Look insgesamt sind schlicht fantastisch, die sich bei den Figuren bewegende Kleidung geradezu verblüffend. Die bunte Präsentation ist in tollen Perspektiven mit bestechender Tiefenschärfe eingefangen und die Inszenierung selbst offenbart mehr Überlegung, als bei vielen Realfilmen.
Dann gibt es noch die Songs in der Geschichte, die diese nicht nur voranbringen, sondern für sich genommen durchaus mitreißend sind. Die Frage, ob sie wirklich notwendig sind, ist dabei schwierig zu beantworten. Spätestens, wenn tanzende Esel gezeigt werden, ist das sicher etwas zu viel des Guten, doch gerade die Kinder im Publikum werden ihre Freude daran haben. Die teils unterschiedlichen Stilrichtungen der Lieder wollen nicht immer ganz zusammenpassen, doch insgesamt tragen die Songs mehr zum Flair der Story bei, als dass sie die Erzählung einschränken.


Der vor Encanto gezeigte Kurzfilm Far From the Tree um zwei Waschbären, ein Elterntier und ein Junges am Strand, erinnert stilistisch an klassische Zeichentrickfilme. Die Geschichte selbst hat einige Parallelen zu Encanto, behandeln beide doch auch die fehlende Kommunikation zwischen Generationen. Wie beim Spielfilm selbst, wird das ältere Publikum hier womöglich andere Lehren mitnehmen, als jüngere Zuschauerinnen und Zuschauer. Gerade diese leisen, berührenden Aspekte machen beide Werke so sehenswert.


Fazit:
Mitunter muss man etwas Altes einreißen, um aus dem Schutt etwas Neues und Größeres wieder aufzubauen. Die Geschichte, die die Disney Animation Studios in ihrem Jubiläumsspielfilm erzählen, besitzt etwas universelles und spricht doch gerade den ständigen Erwartungsdruck unserer Gesellschaft zur heutigen Zeit an. Dass das Besondere einer und eines jeden Einzelnen in der Person liegt und nicht, was man als Talent vorweisen kann, verpackt Encanto in ein Plädoyer für die Familie, die trotz oder gerade auf Grund der verschiedenen Strömungen und Blickwinkel, die sie prägen, ein Ort der größten Stärke sein kann. Mit liebenswerten Figuren erzählt, ist dieses so aktuelle wie zeitlose Märchen fantasievoll und humorvoll zugleich dargebracht. Die unzähligen Details sprühen vor Charme und das Temperament der Hauptfigur überträgt sich auf die Leinwand. Gerade deshalb nehmen die Enttäuschungen und Rückschläge der Figuren hier derart mit. Auch wenn manche Wendungen am Ende arg vorhersehbar sind, Encanto ist ein berührender wie temporeicher Film mit viel Herz für die ganze Familie. Klasse!