Deep Sea [2023]
Wertung: |
Kritik von Jens Adrian |
Hinzugefügt am 5. August 2023
Genre: Animation / Drama / FantasyOriginaltitel: Shēn Hǎi
Laufzeit: 112 min.
Produktionsland: China
Produktionsjahr: 2022
FSK-Freigabe: noch nicht bekannt
Regie: Tian Xiaopeng
Musik: Peng Dou
Originalstimmen: Wang Tingwen (王亭文), Su Xin (苏鑫), Teng Kuixing, Yang Ting, Ji Jing (吉静), Fang Taochen (方韬辰), Dong Yi (董一)
Kurzinhalt:
Als die junge Shenxiu (Wang Tingwen) mit ihrem Vater, dessen neuer Frau und ihrem kleinen Stiefbruder eine Kreuzfahrt unternimmt, erinnert sich Shenxiu an eine Geschichte, die ihre Mutter, die sie verlassen hat und seither den Kontakt immer weiter reduziert, ihr einmal erzählt hat. Wenn man sich auf dem Meer am Geburtstag etwas wünscht, wird das magische Wesen Hyjinx diesen Wunsch in Erfüllung gehen lassen. Es ist Shenxius Geburtstags, auch wenn es ihren Vater nicht interessiert. Kein Wort verliert die Familie darüber. Als das Schiff in einen Sturm gerät, will Shenxiu an Deck gespülte Fische retten und erblickt draußen auf dem Meer eine magische Kreatur. Sie stürzt ins Meer und erwacht, an einen Rettungsring geklammert, mit einer vieläugigen Hyjinx neben sich, von der sie sich nichts mehr wünscht, als ihre Mutter wiederzusehen. Doch dann taucht das „Tiefsee-Restaurant“ auf mit dem einnehmenden Kapitän Nanhe (Su Xin) und seiner Crew bestehend aus seltsamen Wesen. Ihm gelingt es, die Hyjinx zu fangen, mit deren Hilfe er seine Gäste zufriedenstellen will, als das Rote Phantom, ein alles verschlingendes Wesen erscheint, das das Restaurant bedroht und offenbar eine besondere Verbindung zu Shenxiu aufweist …
Kritik:
Der chinesische Animationsfilm Deep Sea erzählt eine visuell atemberaubende Reise in eine traumatisierte Kinderseele. Doch anstatt dies als Ausgangspunkt zu nehmen, ein älteres Publikum zu sensibilisieren oder einem jungen Hoffnung zu machen, gibt Filmemacher Tian Xiaopeng einen Rat mit auf den Weg, der Opfer und Betroffene eines Traumas geradezu verhöhnt. Gekleidet ist das in eine unvorstellbar kreative und aufwändige, bunte Erzählung. Inhaltlich jedoch, ist es trist und bedrückend düster.
Das junge Mädchen Shenxiu kann nicht verkraften, dass ihre Mutter sie verlassen hat. Sie schreibt ihr unentwegt, berichtet vom Alltag mit ihrem Vater, der inzwischen neu geheiratet und ein weiteres Kind bekommen hat, woraufhin Shenxiu kaum mehr beachtet wird. Doch Shenxius Mutter möchte den Kontakt nicht. Bei einer Kreuzfahrt wird auf die Kindergarteneinführung von Shenxius Bruder angestoßen – obwohl Shenxiu an diesem Tag Geburtstag hat. Verschlossen und in sich gekehrt, geht Shenxiu bei einem Sturm an Deck und kurz, nachdem sie eine seltsame Kreatur gesehen hat, über Bord. Sie erwacht im Meer treibend und trifft auf ein vieläugiges, magisches Wesen, eine Hyjinx, von der ihre Mutter erzählte, dass wenn man sich an seinem Geburtstag auf dem Meer etwas wünscht, die Hyjinx diesen Wunsch erfüllen würde. Kurz darauf taucht aus den Tiefen des Meeres das „Tiefsee-Restaurant“ auf, an Bord dessen Shenxiu den eigenwilligen Chefkoch und gleichzeitigen Kapitän Nanhe trifft, der als einziger Mensch eine Besatzung aus anthropomorphen Wesen anführt. Biber sind dort, riesige, aufrecht gehende Fische und Walrosse. Die Gäste des Restaurants sind nicht weniger seltsam.
Deep Sea stellt eine so bezaubernde wie fantasievolle Welt vor, unbeschreiblich bunt und detailliert. Im Vorder- wie Hintergrund gibt es unzählige Besonderheiten zu entdecken, von den offensichtlichen Fragen ganz abgesehen. Wieso ist Nanhe der einzige Mensch an Bord außer Shenxiu? Wieso fällt dies niemandem auf? Und weshalb scheint Nanhe magische Fähigkeiten zu haben? Es sind Fragen, auf die die Geschichte ganz am Ende Antworten gibt, doch sich daran zu stören, fällt schon deshalb schwer, weil einen die Eindrücke förmlich überfluten. Alles hier ist in Bewegung, die gewählten Perspektiven so dicht an den Figuren, dass es teilweise schwerfällt, einen wirklichen Überblick zu bekommen. Die Farben und Formen allein, wirbelnde Partikelspiralen wie Unterwasserströmungen, Wale und andere Meeresbewohner, die wie Lichtermeer durch die Szenerie gleiten, sind geradezu überwältigend. Während das Publikum wie auch Shenxiu versucht, aus der neuen Situation schlau zu werden, präsentiert Filmemacher Xiaopeng die Geschichte in einem Maße hektisch, dass man nicht zur Ruhe kommen kann.
Nanhe muss Schulden zurückbezahlen, weshalb er darauf angewiesen ist, dass die Gäste sein Tiefsee-Restaurant gut bewerten. Doch die Eintragungen, die sich in Seesternen am Schiff/Gebäude widerspiegeln, sind vernichtend, weshalb er eine bezaubernde Fischsuppe kochen will, ausgerechnet aus der Hyjinx, die er gefangen hat. Doch die ist Shenxius einzige Möglichkeit, ihre Mutter wieder zu finden und da das alles verschlingende Rote Phantom das Restaurant anzugreifen scheint, wenn es Shenxiu schlecht geht, trifft Nanhe mit ihr eine Vereinbarung. Sie darf bleiben und in der Küche helfen, sobald das Restaurant eine Fünf-Sterne-Bewertung erhalten hat, wird er die Hyjinx freilassen. Man könnte nun meinen, dass Deep Sea fortan Shenxiu während der Zeit in der Küche begleitet, doch die wird in einer Collage im Schnelldurchlauf erzählt. Nach einer Stunde präsentiert der Film darüber hinaus ein neues Ziel, auf das die Story zusteuert. Ob ein junges Publikum der fahrigen Erzählung bis dahin wird folgen können, wobei sich der Humor eher an ein solches richtet, sei jedoch dahingestellt.
Ebenso, ob es herauslesen kann, dass das Rote Phantom, das regelmäßig das Tiefsee-Restaurant heimsucht, Shenxius Traurigkeit und Verzweiflung verkörpert, die sie buchstäblich zu verschlingen drohen. Sich einem solchen Thema zu nähern und es auch für Kinder verständlich aufzubereiten, wäre im Grunde überaus lobenswert und wichtig. Doch werden der traurigen Shenxiu Plakate gegenüber gestellt mit der Aufschrift „Hast Du heute schon gelächelt?“ oder sie bekommt tatsächlich vorgeworfen, sie würde Katastrophen wie das Rote Phantom anziehen, weil sie traurig sei und schlechte Laune hätte. Dadurch wird das Opfer traumatischer Erfahrungen, nämlich des Verlassenwerdens durch die Mutter und der Vernachlässigung durch den Vater, hier zur Täterin gemacht. Führt man sich diese Aussagen vor Augen, ob sie in ihrer Endgültigkeit so beabsichtigt sind, sei dahingestellt, ist Deep Sea gelinde gesagt ein kaltherziges Märchen. So traumhaft schön und oftmals mit einem unbeschreiblichen Fotorealismus dies präsentiert sein mag, die Botschaft ist wenigstens hochproblematisch, wenn nicht gar indiskutabel und für das Zielpublikum nicht nur nicht hilfreich, sondern schlimmstenfalls sogar schädlich. Das bloße Funktionieren in der Gesellschaft, um andere nicht zu belasten, ist als Rat keine Hilfe für Betroffene, sondern eine der Ursachen dafür, dass diese mitunter einen Ausweg wählen, der auf eine schier unüberwindbar empfundene Verzweiflung schließen lässt.
Fazit:
Insbesondere, weil ihr die Aussage ihrer Mutter, „nichts und niemand wird uns je trennen“, noch so gut in Erinnerung ist, ist es für das Mädchen Shenxiu umso niederschmetternder, wenn ihre Mutter nichts mehr von ihr wissen will. Ihr Vater ist ebenfalls nicht für sie da, Shenxiu ganz auf sich gestellt. Die farbenfrohe, fantasievolle Welt, in die sie im Tiefsee-Restaurant eintritt, könnte Shenxiu auf ein Abenteuer entsenden, in dem sie Kraft, Mut und Stärke lernt, Empathie erfährt und Halt findet. Doch stattdessen bekommt sie gesagt, „Du musst einfach ein wenig mehr lächeln“. Es ist eine Botschaft, nach der die Ursache für eine tiefsitzende Traurigkeit oder Depression bei einem selbst zu suchen ist, ein Lächeln und eine positive Einstellung alles wieder gutmachen würden. Dass sich dies an ein junges Publikum richtet, macht es nur umso problematischer, zumal die Eindrücke der Hyjinx und die Actionszenen überaus bedrohlich präsentiert sind. Die Bilder und manche Perspektiven sind fantastisch, der audiovisuelle Reigen geradezu betäubend bis ermüdend, insbesondere in Anbetracht der spürbaren Lauflänge von beinahe zwei Stunden. So bewundernswert Tian Xiaopengs Animationsfilm aus kreativer Sicht ist, sich nicht an diejenigen zu richten, die Shenxius Trauma ausgelöst und sie vernachlässigt haben, ist vollkommen unverständlich. Deep Sea präsentiert eine visuell atemberaubende Reise, die man auf Grund ihrer Kernaussagen nicht empfehlen kann.