Tár [2022]
Wertung: |
Kritik von Jens Adrian |
Hinzugefügt am 6. Februar 2023
Genre: DramaOriginaltitel: Tár
Laufzeit: 158 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2022
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren
Regie: Todd Field
Musik: Hildur Guðnadóttir
Besetzung: Cate Blanchett, Nina Hoss, Noémie Merlant, Sophie Kauer, Julian Glover, Allan Corduner, Mark Strong, Mila Bogojevic, Sylvia Flote, Adam Gopnik, Zethphan Smith-Gneist
Kurzinhalt:
Lydia Tár (Cate Blanchett) ist eine weltbekannte Pianistin und Leiterin der Berliner Philharmoniker, bei denen auch ihre Frau Sharon (Nina Hoss) Teil des Orchesters ist. Hinter dem beruflichen Erfolg steht die persönliche Beziehung zurück, auch diejenige zur gemeinsamen Tochter Petra (Mila Bogojevic). Kollegen wie Eliot Kaplan (Mark Strong), der auch Lydias Förderprogramm für junge Musikerinnen leitet, suchen ihren Rat und mit den kommenden Konzerten, ihrem Buch und einer eigenen Komposition, steht die Dirigentin kurz vor ihrem künstlerischen Höhepunkt. Doch wie ihre Assistentin Francesca (Noémie Merlant) ihr mitteilt, scheint eine ehemalige Studentin aus Lydias Förderprogramm sie einzuholen und mit der jungen Cellistin Olga (Sophie Kauer) könnte sie in alte Muster verfallen. Immer mehr bricht Lydias geordnete Welt mit ihr als Mittelpunkt auseinander …
Kritik:
Todd Fields Tár ist ein in jeder Hinsicht bemerkenswerter Film. Angefangen von einer geforderten, fantastischen Besetzung, über einen Blick hinter den Vorhang eines großen Konzerthauses, bis hin zu einer so detaillierten Charakterzeichnung, dass man vermuten könnte, sie wäre eine Biografie. Präsentiert ist all das in hervorragenden Bildern, aber auch mit einer fordernden Ausdauer, sich einer konventionellen Dramaturgie zu entziehen. Insofern richtet sich das preiswürdige Drama nur an ein kleines Publikum und macht daraus auch kein Geheimnis.
Der Film erzählt von der weltbekannten Pianistin und Dirigentin Lydia Tár, die derzeit die Berliner Philharmoniker leitet und mehrere Projekte gleichzeitig jongliert. Angefangen mit der Vorbereitung einer lange erwarteten Aufführung von Gustav Mahlers Fünfter Symphonie, über ihr Buch, das in Kürze vorgestellt wird, bis hin zu ihren eigenen Kompositionen, die jedoch nicht vorankommen wollen. Darüber hinaus ist die Musikwissenschaftsdoktorin auch als Dozentin tätig. Ohne ihre Assistentin Francesca wäre das kaum unter einen Hut zu bringen, ganz zu schweigen von Lydias Privatleben. Verheiratet mit der Musikerin Sharon, die ebenfalls bei den Philharmonikern spielt, haben sie eine gemeinsame Tochter. Tár scheint auf den unumwundenen Höhepunkt ihres Schaffens zuzusteuern, bis das Image der integer auftretenden Künstlerin zunehmend Risse erhält und ihr Leben Stück um Stück zerbricht.
Dabei kommt nach dem fulminanten Auftakt eines Interviews, das der tatsächliche Kunsthistoriker und Essayist Adam Gopnik mit Lydia Tár führt, der Moment, in dem man sich aktiv zu Bewusstsein bringen muss, dass die Titel gebende Dirigentin nicht wirklich existiert. Filmemacher Field zeichnet insbesondere bei diesem Gespräch, in dem die Kamera immer dichter an Lydia heranrückt, als würde sich der Film ihr als Figur nähern, ein so umfassendes Bild von ihr, stellt sie mit ihrem eindrucksvollen Werdegang und vor allem, mit einer Persönlichkeit, Einschätzungen und Überzeugungen vor, dass man meinen könnte, dies wäre eine dokumentarische Biografie. Es ist ein Detailgrad, der Tár wie ein roter Faden durchzieht und der verdeutlicht, wie viele Überlegungen in jeden einzelnen Moment des Films geflossen sind. Hinzu kommt, dass Cate Blanchett in einer furiosen Darbietung vollständig in der Figur aufgeht. Es ist ein Kraftakt, in dem Genie, Mensch, Künstlerin und Egozentrikerin gleichermaßen zur Geltung kommen.
Denn was gleichermaßen früh deutlich wird, wenn Lydia vor Studierenden die Überzeugungen eines jungen Studenten demontiert, der die Kunst nicht vom Künstler trennen möchte – ein Thema, das sich bezogen auf Tár als Künstlerin letztlich wiederfindet –, ist der Umstand, dass sie zwar in der Sache grundsätzlich Recht haben mag, doch die Unumstößlichkeit, mit der sie sich und ihre Auffassung überhöht, sie als sozial unzugängliche Person entlarvt. Vor Auftritten braucht sie Tabletten zur Beruhigung und auch ihre Frau Sharon, erstklassig gespielt von einer großartigen Nina Hoss, leidet unter Angstzuständen, die sie zu Medikamenten greifen lassen. Dass der Auftritt an der Musikhochschule Lydia einholen wird, ist keine große Überraschung, wohl aber, welch andere Geheimnisse die Figur bereithält, die es gewohnt ist, dass zwar alle Augen auf sie gerichtet sind, sie aber buchstäblich den Takt vorgibt. Ohne es tatsächlich auszusprechen, wird unmissverständlich angedeutet, dass Maestro Tár an der neu und noch nicht fest in das Orchester aufgenommenen Cellistin Olga mehr als nur berufliches Interesse hegt. Und offenbar ist es nicht die erste junge Frau, deren Nähe Lydia in einer für ein professionelles Verhältnis unangemessenen Weise sucht. Gleichermaßen hat es von Beginn an den Anschein, als würde Lydia beobachtet, als würde jemand ihr Mitteilungen und Hinweise hinterlassen, die sie auf einen solch erfolgten Fehltritt hinweisen und sie verunsichern sollen.
Doch dieser Aspekt verliert sich irgendwann, ohne wirklich aufgelöst zu werden. So auch der Verbleib von Lydias Assistentin, die sich von ihr abwendet. Auch hier wird mehr angedeutet, als weiterverfolgt. In vielerlei Hinsicht ist Tár weniger daran interessiert, eine vollständige Geschichte um die Titelfigur zu erzählen, deren persönlicher Absturz sie letztlich dorthin zurückführt, wo sie einst begonnen hat. Die Geschichte keiner Figur wird tatsächlich abgeschlossen. Auch nimmt Regisseur Todd Field bewusst Abstand davon, eine Wertung zu Lydia abzugeben. Er überlässt es vielmehr dem Publikum, die Künstlerin für den Missbrauch ihrer Macht zu verurteilen, oder die Kunst, die sie vollbringt, zu feiern. Die Antwort darauf muss man für sich selbst finden und wer sich auf eine ruhige Erzählung einlässt, die eine ganz eigene Welt zu erschaffen scheint, in der man sich dieser Figur Zug um Zug nähern kann, wird eine so facettenreiche Charakterstudie vorfinden, wie man sie seit Ewigkeiten nicht bewundern konnte.
Fazit:
Sieht man die von Klängen und Geräuschen mitunter getriebene Lydia, die nachts wegen eines surrenden Kühlschranks aufwacht, oder ihrem stellvertretenden Dirigenten den Stift wegnimmt, dessen Klickgeräusch sie in den Wahnsinn treibt, dann wird die Bürde ihres Talents greifbar. In der Rolle entwickelt Cate Blanchett eine einnehmende Leinwandpräsenz, die förmlich Ehrfurcht gebietet, nur um sie dann immer mehr zu dekonstruieren. Sei es durch Lydias Narzissmus, wenn sie Zeitschriften mit Berichten um ihre eigene Person sammelt, oder sie um jeden Preis ihr Vermächtnis erschaffen will. So großartig und visionär die Künstlerin, so abgründig ihr persönlicher Machtmissbrauch. Filmemacher Todd Field zeigt dies wertfrei und mit einer bestechenden Optik, deren Bilder und Einstellungen nicht nur überlegt, sondern wie die Szenen und die Klangkulisse insgesamt komponiert sind. Dass sein Charakterdrama wie eine Biografie anmutet, unterstreicht die minutiöse Vorbereitung seines Werkes, das unbeschreiblich authentisch anmutet und mit langen Einstellungen der Besetzung sehr, sehr viel abverlangt. Doch so gelungen all das ist, schon die Eröffnung, die in gewisser Weise mit dem Abspann beginnt, unterstreicht die Eigenwilligkeit der Präsentation. Mit zweieinhalb Stunden ist die überdies merklich lang. So ist Tár ein Kunstwerk, das anzusehen keine Freude bereitet und zu analysieren mehr lohnt, als sich darin zu verlieren, oder es gar zu genießen. Dafür gibt es ein Publikum, das hier ganz auf seine Kosten kommt. Doch es wird ein kleines sein.