Winter's Bone [2010]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 28. Februar 2012
Genre: Drama

Originaltitel: Winter's Bone
Laufzeit: 100 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2010
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Debra Granik
Musik: Dickon Hinchliffe
Darsteller: Jennifer Lawrence, Isaiah Stone, Ashlee Thompson, Valerie Richards, John Hawkes, Lauren Sweetser, Garret Dillahunt, Shelley Waggener, William White, Cinnamon Schultz, Cody Brown, Kevin Breznahan, Casey MacLaren, Ronnie Hall


Kurzinhalt:
Eines Tages steht Sheriff Baskin (Garret Dillahunt) vor der Tür der Familie Dolly. Er ist auf der Suche nach Jessup, Vater der ältesten Tochter Ree (Jennifer Lawrence), der in wenigen Tagen einen Gerichtstermin hat und spurlos verschwunden ist. Für Ree und ihre Geschwister Ashlee (Ashlee Thompson) und Sonny (Isaiah Stone) ist das nichts Neues. Ihre Mutter Connie (Valerie Richards) ist schon lange krank und nur körperlich anwesend, darum kümmert sich Ree um die Familie. Doch Jessup hat das Grundstück als Teil der Kaution angegeben und sollte er nicht bei Gericht erscheinen, wird es gepfändet. In etwas mehr als einer Woche säßen die Dollys ganz auf der Straße.
So macht sich Ree auf, Jessup zu finden und hakt dabei zuerst bei seinem Bruder Teardrop (John Hawkes) nach. Wie viele in der Gegend, ist auch er meist unter Drogeneinfluss und rät Ree nur, sie solle aufhören, Fragen zu stellen. Auch bei Little Arthur (Kevin Breznahan), der wie Jessup Drogen herstellt, erhält sie eine Abfuhr. Je mehr Fragen sie stellt, umso mehr Menschen scheinen schon zu wissen, dass sie zu ihnen kommen wird. So auch Thump Milton (Ronnie Hall), Anführer eines einflussreichen Clans. Während Ree die Zeit davon läuft verdichten sich die Hinweise, dass was immer mit Jessup geschehen ist, oder wo er sich auch aufhält, niemand davon erfahren soll ...


Kritik:
Die Preise und Nominierungen für Winter's Bone kann man alle nachvollziehen. Regisseurin Debra Granik erzählt ein authentisch erscheinendes Drama mit viel Feingefühl und herausragenden Darstellern. Es ist in dreizehn Jahren ihre dritte Regiearbeit. Doch trotz aller ausgezeichneter Zutaten ergibt der Film insgesamt ein zwar stimmiges, aber nicht unbedingt packendes Gesamtbild. Woran es letztendlich liegt, muss jeder für sich entscheiden, und es wäre nicht gerecht, würde man behaupten, der Film wäre nicht sehenswert. Nur hat man danach eine Tour de Force der Figuren beobachtet, deren Umstände sich doch nicht gebessert haben. Vielmehr haben sie durch ihre harte Arbeit ihren Status Quo erhalten.

Am offensichtlichsten bleibt die Leistung von Jennifer Lawrence in Erinnerung, die hierfür mit gerade einmal 20 Jahren vollkommen zu Recht eine Oscarnominierung erhalten hat. Ihre Darbietung der Ree Dolly, die ohne sich zu beklagen die große Bürde, die das Leben ihr zugemutet hat, erträgt, ist ergreifend und beeindruckend. Die erst 17jährige Ree ist nicht nur für ihre beiden jüngeren Geschwister Sonny und Ashlee verantwortlich, sondern kümmert sich zudem um ihre kranke Mutter, die trotz oder auf Grund der Medikamente, die sie nimmt, nur apathisch die Tage verstreichen lässt. Wir befinden uns in den Ozarks, einer Region in Missouri, in der Ree und ihre Familie lebt. Je weniger die Menschen zum Leben haben, umso mehr verlassen sei sich auf ihre Familie, und so wiegt Blut auch hier schwerer als Gold. Das Bisschen Vieh, das sie halten, kann sie nicht ernähren und manchmal weiß Ree nicht, wie sie ihren Geschwistern Essen auf den Tisch bringen soll. Dann helfen die Nachbarn, die auch irgendwo entfernte Verwandte sind. Als der Sheriff bei den Dollys vorbeikommt, auf der Suche nach Rees Vater Jessup, beginnt eine Odyssee, die sie an ihre Grenzen führt. Jessup hat das Anwesen als Teil seiner Kaution angegeben und ist vor einem geplanten Gerichtstermin unauffindbar. Wenn er nicht erscheinen sollte, müssen Ree und ihre Familie ausziehen – nur wohin? Also beginnt Ree, deren Vater immer wieder für lange Zeit verschwunden war, herumzufragen, wo er sich aufhält. Es hängt buchstäblich ihre Existenz davon ab. So lernen wir ihren Onkel Teardrop kennen, der wie Little Arthur und die meisten in der Gegend im Rauschgiftgeschäft tätig ist. Jessup war ein erfolgreicher Crystal-Koch gewesen und angeblich hatte er mit der Polizei einen Deal ausgehandelt, dass er aussagen wollte, um seine Gefängnisstrafe zu verkürzen. Das wäre für Viele Motiv genug, sich seiner zu entledigen. Insbesondere für Thump Milton, Anführer einer einflussreichen Familie, welche die Gegend unter Kontrolle hat.

So muss sich Ree nicht nur mit ihrem Vater beschäftigen, sondern die Verstrickungen ihrer eigenen Familie durchleuchten, um ihren Vater zu finden – oder herauszubekommen, was mit ihm geschehen ist. Denn Tote benötigen keine Kaution. Doch was sich teils wie ein Thriller liest, ist in Winter's Bone eine Charakter- und Milieustudie, in der nicht nur dank Laiendarstellern, sondern allein durch die Schauplätze und die ausgewaschenen Farben eine Atmosphäre erzeugt wird, die einem die Kehle zuschnürt. Selbst wenn man sich an einen Ehrenkodex bezüglich dem eigenen Fleisch und Blut halten würde, wenn Ree auf eigene Faust durch die kargen, winterlichen Wälder zieht und Männern Fragen stellt, die eine ganze Truppe vor sich stehen haben, um unantastbar zu bleiben, sorgen wir uns durchaus um ihre Sicherheit. Ihre Entschlossenheit wird durch ihre Offenheit nur unterstrichen. Wenn wir ihren enttäuschten Blick sehen, als sie von dem Rekrutierungsbeauftragten der US-Armee gesagt bekommt, dass die Prämie, die sie bei einer Verpflichtung erhält, nicht sofort ausgezahlt würde, macht uns das betroffen. Eine solche Verantwortung sollte einem so jungen Menschen nicht auferlegt sein. Wie es dazu kam, was die Drogen aus den Menschen machen, sehen wir an ihrer Umgebung, an den hageren Gestalten, den glasigen Augen und kaputten Zähnen. Von der Unberechenbarkeit ihrer Handlungen ganz zu schweigen.

Es gibt keine Figur, die unnötigerweise vorgestellt würde, und man erfährt, wenn man genau zuhört, schon recht früh, wohin Rees Suche nach ihrem Vater führen wird. Trotzdem fesselt das Drama nicht in dem Maße, wie man es erwarten würde. Dabei zeichnen die schaurig kühlen Landschaften und die melancholische Musik ein so umfassendes Bild jener Gesellschaft, dass es schwer fällt, sich dies irgendwie anders vorzustellen. Was für ein Kraftakt es für alle Beteiligten gewesen sein muss, ist ebenso spürbar wie die Bildersprache zu erkennen, und angesichts von zahlreichen Kinofilmen, die sich auf Schauwerte und Spezialeffekte verlassen, findet ein Drama, das auf die Figuren zugeschnitten ist, den Weg zurück zu dem, was Kino im Kern ausmacht. Doch außer zu Ree finden wir zu niemandem Zugang. Und mit ihr haben wir mehr Mitgefühl, als dass sie uns inspirieren würde.


Fazit:
Ohne die Figuren anzuklagen taucht Winter's Bone in ihr soziales Umfeld ein, in dem sich ebenso viele Täter wie Opfer finden. Manchmal sind die Übergänge hierbei sogar fließend. Scheint es grausam, Ree zweimal zur Mittäterin bei etwas am Ende zu machen, so ist es wichtig hier darauf zu achten, wie verhältnismäßig gefasst sie beim zweiten Mal reagiert. Regisseurin Debra Granik macht leise Beobachtungen, die von einer herausragenden Besetzung treffend dargebracht werden. Angeführt von einer überragenden Jennifer Lawrence, der fließend die Übergänge zwischen verletzlich und stark gelingen.
Dennoch mangelt es der authentischen und stimmungsvollen Romanverfilmung an Zugkraft. Je detaillierter die Milieustudie gerät, umso schleppender schreiten Rees Nachforschungen zu ihrem Vater voran. Bis man schließlich bemerkt, dass alle Impulse von außen zu ihr dringen. Sie mag durch ihre Fragen vieles angestoßen haben, aber aufgeklärt hat sie letztlich nichts. Nichtsdestoweniger bleibt Winter's Bone für ein interessiertes Publikum sehenswert, doch fehlt ein stärkerer emotionaler Bezug zu mehr Figuren als nur zur tapferen Protagonistin.