Sicko [2007]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 26. Oktober 2009
Genre: Dokumentation

Originaltitel: Sicko
Laufzeit: 123 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2007
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Michael Moore
Musik: Erin O'Hara
Darsteller: Michael Moore, Tucker Albrizzi, Tony Benn, George W. Bush, Reggie Cervantes, Bill Clinton, Hillary Rodham Clinton, John Graham, Aleida Guevara, William Maher, Richard Nixon


Kurzinhalt:
In einem Land, in dem viele Menschen zwei oder mehr Jobs pro Tag ausüben, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen und dabei dennoch nur ein Bruchteil dessen bekommen, was manche Konzerne pro Minute erwirtschaften, überrascht es nicht, dass einer verunfallten Autofahrerin nach ihrem Krankenhausaufenthalt selbiger von ihrer Krankenkasse in Rechnung gestellt wird. Sie hätte zuerst eine Erlaubnis für die Behandlung bei ihrer Kasse einholen müssen – ihre Bewusstlosigkeit in dem Moment gilt nicht als Entschuldigung.
Filmemacher Michael Moore widmet sich in seiner Dokumentation nur kurz den 50 Millionen Amerikanern, die keine Krankenversicherung haben, sondern hauptsächlich den 250 Millionen, die versichert sind. Diesen Schutz besitzen sie aber nur so lange, wie sie nicht krank werden, denn dann finden die Versicherungsgesellschaften Mittel und Wege, die Kosten auf die Versicherten abzuwälzen, oder die Verträge rückwirkend zu kündigen. Um jene Machenschaften aufzudecken, bringt Moore nicht nur die Opfer des Systems vor die Kamera, sondern auch Insider der Versicherungsfirmen und zeichnet damit ein Bild, das man trotz aller Schreckensbeschreibungen selbst sehen muss, um es zu glauben ...


Kritik:
Nicht ohne Grund wünscht man jemandem zum Geburtstag nicht nur "alles Gute", sondern vorrangig "Gesundheit". Sie ist auch trotz der Fortschritte in der Medizin, das höchste Gut in unserem Leben. Umso wichtiger ist eine medizinische Versorgung, wenn es um die eigene Gesundheit einmal nicht so gut bestellt ist. Während manche Länder der Welt ihren Bürgern eine kostenfreie medizinische Grundversorgung zur Verfügung stellen, wurde insbesondere in den USA jenes vielerorts bewährte soziale Gesundheitswesen als kommunistisches Teufelswerk verschrien und es als Einschnitt in die Freiheit der Menschen beschrieben, wenn sich der Staat in manchen Belangen um seine Bürger kümmert. Filmemacher Michael Moore, dem mit der kritischen Dokumentation Fahrenheit 9/11 [2004] über die Hintergründe und Auswirkungen der Terroranschläge des 11. September 2001 nicht nur ein künstlerischer, sondern auch finanziell ein überraschender Erfolg gelungen war, widmet sich in Sicko dem amerikanischen Gesundheitswesen. Dabei geht es ihm nicht zentral darum, die Zusammenhänge zwischen der Pharmaindustrie, ihren Lobbyisten und der Regierung aufzudecken, vielmehr schildert er Schicksale, bei welchen die Betroffenen trotz Krankenversicherung von den auf Profit ausgerichteten Versicherungsgesellschaften im Stich gelassen wurden. Aber es gibt auch Stimmen aus jenen Firmen zu hören, die sich über die Machenschaften und Anweisungen innerhalb der größten Krankenversicherungen der USA äußern. Außerdem wagt Moore einen Blick in andere Länder und zeigt auf, wo es alternative Versicherungssysteme gibt, und dass diese funktionieren.
Wie nicht anders zu erwarten, konzentriert sich der Dokumentarfilmer hierbei auf jene Aspekte, die ihn bei seiner Argumentation unterstützen, was ihm nicht gelegen kommen würde wird nicht erwähnt. So auch nicht, wie hoch die Steuerabgaben in Großbritannien und Frankreich auf Grund der sozialen Sicherungssysteme sind, und auch dass Privatpatienten mit dementsprechendem finanziellen Polster Zugang zu einer höheren medizinischen Versorgung oder Betreuung durch einen Chefarzt haben. Dass in den USA die Lebenserwartung geringer ist als beispielsweise in Frankreich, mag nicht ausschließlich an der Krankenversorgung liegen, sondern viele Ursachen haben. Und doch gelingt es Michael Moore, der auch in Sicko oft vor der Kamera zu sehen ist, mit den immer wieder eingebrachten Erfahrungs- und Leidensgeschichten der einzelnen Betroffenen bezüglich einer unzureichenden Behandlung durch die Krankenkasse, oder gar wo eine Behandlung erst gewährt und anschließend die vermeintlich übernommenen Kosten wieder eingetrieben wurden, jene Defizite durch seine Dramaturgie zu überspielen. Ohne Frage wird man als Zuschauer wütend, wenn man sieht, wie sich die Mächtigen die Taschen füllen, während Menschen, die drei Jobs pro Tag zu meistern versuchen, nicht einmal trotz Krankenversicherung eine rudimentäre Versorgung erhalten. Die Aussagen der interviewten Menschen werden durch ausbleibende Stellungnahmen der Versicherungsgesellschaften nur noch unterstrichen.

Aber so erzieherisch sinnvoll und lobenswert Sicko insbesondere für die amerikanische Bevölkerung auch sein mag, zumal diese gerade jetzt durch den ein Jahr im Amt befindlichen Präsidenten Obama in eine gesundheitliche Grundversorgung geführt werden soll (zum Teil gegen Widerstand aus der Bevölkerung), so sehr fragt man sich im ersten Moment, weshalb man sich hierzulande für Sicko interessieren sollte.
Die Antwort darauf ist an sich eine sehr traurige. Hält man sich vor Augen, dass Moore in seiner Dokumentation in Frankreich eine kostenfreie Hochschule vorstellt, eine für jeden erschwingliche Ganztagsbetreuung von Kleinkindern und eine medizinische Versorgung, bei der die Menschen im Mittelpunkt stehen, muss man leider erkennen, dass viele jener sozialen Sicherungssysteme in Deutschland seit Jahren zurückgefahren werden. Während in Großbritannien die staatlichen Krankenhäuser nach ihrer Genesungsquote, beziehungsweise der Anzahl an Patienten mit besseren Blutdruckwerten oder Nichtrauchern bezahlt werden, und somit tatsächlich ein Bestreben bei den Ärzten und Kassen vorhanden ist, die Menschen gesund zu machen, wurde in Deutschland der Gesundheitsfond eingeführt, laut der diejenige Krankenkasse am meisten Geld erhält, die die meisten chronischkranken Patienten besitzt – immerhin muss sie der Pharmaindustrie auch mehr für die Medikamente bezahlen. Statt die Preise, welche die Pharmakonzerne für ihre Medikamente verlangen können, gesetzlich zu begrenzen, wird denjenigen Versicherungsnehmern, die keine Leistungen in Anspruch nehmen, mehr Geld für weniger Leistung abverlangt. Kurzum: während man in den USA derzeit darum bemüht ist, eine grundlegende Gesundheitsversorgung auf die Beine zu stellen, bei der die Menschen und nicht die Gewinnmaximierung der Konzerne im Mittelpunkt steht, scheint man hierzulande darum bemüht, den Leistungskatalog der gesetzlichen Kassen zurückzufahren und den Pharmakonzernen eine Preishoheit zu überlassen, die auch durch die jahrelangen Entwicklungskosten nicht gerechtfertigt wird. Insofern eignet sich Sicko als abschreckendes Beispiel dafür, worauf wir ungebremst zusteuern. Das ist es auch, was einen als Zuschauer zum zweiten Mal wütend macht, wenn man darüber nachdenkt, was Michael Moore in seinem Film vorstellt. Nicht nur, dass die amerikanischen Verhältnisse als so desolat aufgedeckt werden wie sie tatsächlich sind, es wird deutlich, was einen bis in 10 Jahren auch hierzulande erwartet. Moore mag dies stellenweise durch die Zusammenstellung mit der musikalischen Untermalung oder dazwischen geschnittener Filmclips in Polemik abgleiten lassen, an der Richtigkeit seiner (mitunter einseitigen) Aussagen ändert das jedoch nichts. Und an der Wichtigkeit der Dokumentation ebenso wenig.


Fazit:
Nicht zuletzt durch bewusst gewählte Szenenwechsel und eingestreute Ausschnitte oder Musikeinlagen baut der Regisseur in seinen Zuschauern eine Aggression gegen jene Ungerechtigkeiten im amerikanischen Gesundheitswesen auf. Gleichzeitig rückt er die Opfer jenes Systems in den Mittelpunkt und schildert ihre Schicksale. Man mag dem Filmemacher vorhalten, dass er die Zuseher beeinflusst, wenn er ihnen eine Mutter vorstellt, deren Tochter gestorben ist, weil sie mit der Krankenkasse diskutieren musste, in welchem Krankenhaus die Behandlung übernommen würde, oder wenn eine Ehefrau ihren Mann verliert, weil die Kasse eine Knochenmarktransplantation ablehnt, da sie als "experimentelle Behandlungsmethode" eingestuft wird.
Doch sind es gerade jene Momente in Sicko, die unter die Haut gehen und bei denen man sich als Zuschauer in die Position jener versetzt, die vom System im Stich gelassen wurden. Insbesondere die Ausflüge nach Europa, deren ebenfalls angeschlagene soziale Systeme Michael Moore als Allheilmittel verheißt, hinterlassen auf Dauer einen Beigeschmack. Immerhin enthält der Regisseur wichtige Informationen vor. Dennoch ändert es an Moores Aussage nichts, dass das amerikanische Prinzip nicht funktioniert und nur dazu dient die Taschen derjenigen zu füllen, die es kontrollieren. Dass wir hierzulande mit immer patientenunfreundlicheren Gesetzen eben darauf zusteuern, macht die sehenswerte Dokumentation für alle interessant und wichtig.