Das weisse Band - Eine deutsche Kindergeschichte [2009]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 27. Oktober 2009
Genre: Drama

Laufzeit: 144 min.
Produktionsland: Österreich / Deutschland / Frankreich / Italien
Produktionsjahr: 2009
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Michael Haneke
Darsteller: Susanne Lothar, Ulrich Tukur, Burghart Klaußner, Josef Bierbichler, Marisa Growaldt, Christian Friedel, Leonie Benesch, Ursina Lardi, Steffi Kühnert, Gabriela Maria Schmeide, Rainer Bock, Maria-Victoria Dragus, Leonard Proxauf, Janina Fautz, Michael Kranz


Kurzinhalt:
Im Jahr 1913 in einem protestantischen Dorf in Norddeutschland wird der hiesige Baron (Ulrich Tukur) wenn schon nicht verehrt, dann doch wenigstens geachtet. Die größten Respektspersonen im Dorf sind allerdings der Pfarrer (Burghart Klaußner) und der Arzt (Rainer Bock). Umso größer ist im ersten Moment die Bestürzung, als dem Arzt bei einem Ausritt eine Falle gestellt wird und dieser auf Grund seiner Verletzungen ins Krankenhaus muss.
Nach wie vor wird das Dorf von den Männern eisern geführt. Bis sich erneut ein Verbrechen ereignet. Während die Vorfälle in der Öffentlichkeit verschwiegen werden, bröckelt der augenscheinliche Zusammenhalt der einzelnen Familien, in denen die Kinder der Willkür der Eltern und deren Scheinheiligkeit gleichermaßen ausgesetzt sind. Der Dorflehrer (Christian Friedel), der in der jungen Eva (Leonie Benesch) seine große Liebe gefunden hat, hegt einen immer stärker werdenden Verdacht bezüglich der Täter. Doch gegen die etablierten Gesellschaftsanführer scheint er nicht anzukommen. Oder wollen die der Wahrheit nur nicht ins Gesicht sehen ...


Kritik:
Immer wieder verklären wir heute frühere Zeiten in ein nostalgisches Flair. Auch wenn das Leben damals ohne Zweifel mit harter Arbeit verbunden war, vermutet man doch, dass es die Menschen damals irgendwie einfacher hatten und dass die Welt damals noch in Ordnung war. Fernsehsendungen, in denen sich Laiendarsteller in eine Zeit um 1900 hineinversetzen lassen, zeugen von jenem Irrglauben. Filmemacher Michael Haneke, der seinen ohnehin schon international erfolgreichen und beklemmenden Film Funny Games [1997] jüngst in einer amerikanischen Version selbst neu verfilmte (Funny Games U.S. [2007]), widmet sich in Das weisse Band einem kleinen norddeutschen Dorf und seinen Bewohnern. Als dort urplötzlich Verbrechen geschehen, für die es augenscheinlich keine Verdächtigen gibt und die an Intensität zunehmen, flüchten sich die Dorfbewohner darin, den Schein zu wahren. In der Öffentlichkeit werden die Vorkommnisse meist verschwiegen und die Menschen sind umso überraschter, wenn sich die nächste Tragödie ereignet.
All das kleidet Haneke in kühle, schwarz-weiße Bilder und lässt die Schauspieler und die Geschichte für sich sprechen. Lange, beinahe schon elegische Einstellungen muten in den einfachen Häusern aus jener Zeit wie ein Kammerspiel an, dem man als Zuschauer mitunter ungewohnt und unbequem dicht zusehen muss. Keine Musik außer der im Dorf gespielten ist zu hören und überhaupt scheint sich der Filmemacher mehr darauf zu konzentrieren, seine Figuren vorzustellen, statt die im Dorf verübten Verbrechen als Anlass zu nehmen, das Erzähltempo zu erhöhen. Denn darum geht es dem Regisseur und Autor bewusst nicht. Ursprünglich als dreiteilige Miniserie konzipiert, zeigt Michael Haneke in Das weisse Band ein authentisches und gerade darum überraschendes Bild einer Zeit, die heute oft in Vergessenheit geraten ist. Am Vorabend des ersten Weltkrieges nimmt Haneke sein Dorfdrama zum Anlass, sich die Fassaden der mächtigen und einfachen Bürger im Land anzusehen, um diese dann Stück für Stück zu demontieren. Das beginnt zwar überraschend spät im Film, doch mindert es nicht die Gründlichkeit, mit welcher hier vorgegangen wird. Von Eltern, die ihre Kinder verprügeln oder gar missbrauchen, über Menschen die nach außen als freundlich und zuvorkommend erscheinen, im Innern aber böse und verbittert sind, bis hin zu Beziehungen, die nur geführt werden, um den Schein zu wahren ist alles vertreten. Dabei werden alle möglichen Teile der Gesellschaft vorgestellt, sei es ein Baron, der Lehrer, der Doktor und der Bauer. Sie alle leben in Wahrheit ein anderes Leben, als es für die übrigen Dorfbewohner sichtbar ist.

Doch Haneke gelingt noch etwas Anderes; geschickt und subtil etabliert er seine Figuren als Sinnbilder einer Gesellschaft, die durch ihre Unterdrückung nicht nur stetig an Aggression gewinnt, sondern als zeitgenössische Parabel den Nährboden für die Gewalt im Ersten Weltkrieg überhaupt erst bereitet hat. Denn interessanterweise wird die Gewalt meist von Eltern oder Älteren gegenüber den Kindern ausgeübt. Und während in jener heuchlerischen Umgebung dieses Verhalten bei den Erwachsenen toleriert oder ignoriert wird, müssen die Kinder für ihre Taten nicht nur büßen, sondern werden dafür oft misshandelt. Wäre es also so abwegig, wenn sich die Kinder irgendwann gegen die Erwachsenen im Dorf auflehnen würden? Und wie würden sie reagieren, wenn sie mit der Aussicht auf einen kommenden Krieg ihre angestaute Wut ausleben könnten? Würden sie sich bereitwillig der Gewalt hingeben? Das Tragische daran ist die letzte Konsequenz, die sich aus jener Überlegung ergibt. Denn der Ausgang des Ersten Weltkrieges war insbesondere für Deutschland vernichtend, die Wut und Enttäuschung somit bei den Menschen im Land umso größer – und sie damit empfänglicher für ein Regime, das sich zwischen den Weltkriegen etablierte und die desillusionierten Menschen blendete, um sie an sich zu binden.
All das sind Überlegungen, die man als Zuschauer anzustreben gewillt sein sollte, sieht man sich Das weisse Band an. Unterstützt wird dies unter anderem durch die Entscheidung Hanekes, den Film in schwarz-weiß zu belassen. Dadurch fällt einem eine emotionale Identifizierung mit den Figuren schwerer, jedoch ein objektiver Blick leichter, um letztlich Lehren aus den gezeigten Vorgängen zu ziehen.
Wer sich auf das sehr anspruchsvolle Drama einlässt, bekommt ein besonnen und ruhig gefilmtes Zeitdokument gezeigt, das mitunter aufwühlt, sicherlich jedoch nachwirkt. Von den durchweg erstklassigen Darstellern stehen insbesondere Burghart Klaußner, Leonie Benesch und Susanne Lothar hervor. Nicht zuletzt erinnert die Parabel auch heute daran, was aus einer Gesellschaft erwachsen kann, bei der so viele ihrer Teile unzufrieden sind und die Ungerechtigkeiten irgendwann nicht mehr akzeptiert werden. Und auch dies ist heute ein Thema wie vor 100 Jahren.


Fazit:
Es ist ohne Frage eine schwer verdauliche Kost, die Regisseur Michael Haneke seinem Publikum hier zumutet. In etwas weniger als zweieinhalb Stunden bekommt man als Zuschauer ein Dorf vorgestellt, in dem augenscheinlich das Böse Einzug gehalten hat. Je näher man aber hinsieht, um so offensichtlicher wird, dass das Böse schon lange dort war und die geschehenen Verbrechen vermutlich eher eine Reaktion darauf sind. Für die Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg ist das ebenso exemplarisch, wie für Vieles heute. Die Möglichkeiten, Das weisse Band zu interpretieren sind dabei vielfältig und offenbaren immer wieder neue Ansätze, je länger man darüber nachdenkt.
Das macht Hanekes Drama zu einem der anspruchsvollsten aber auch lehrreichsten Filme, die derzeit in den Kinos zu sehen sind. Wer das betont ruhig gefilmte aber nicht weniger aufwühlende Werk auf sich wirken lässt wird nicht enttäuscht, doch sollte man dafür auch bereit sein.