Anonymus [2011]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 19. November 2011
Genre: Drama / Thriller

Originaltitel: Anonymous
Laufzeit: 130 min.
Produktionsland: Großbritannien / Deutschland
Produktionsjahr: 2011
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Roland Emmerich
Musik: Harald Kloser, Thomas Wanker
Darsteller: Rhys Ifans, Vanessa Redgrave, Sebastian Armesto, Rafe Spall, David Thewlis, Edward Hogg, Xavier Samuel, Sam Reid, Jamie Campbell Bower, Joely Richardson, Paolo De Vita, Trystan Gravelle, Robert Emms, Tony Way, Julian Bleach, Derek Jacobi


Kurzinhalt:
Bereits als Junge entdeckt Edward de Vere (Rhys Ifans / Jamie Campbell Bower) seine Begeisterung und seine Begabung für die Dichtung, womit er sogar die Königin Elisabeth I (Vanessa Redgrave / Joely Richardson) beeindruckt. Trotz seines adeligen Standes als Graf von Oxford, der ihm eigentlich verbietet, solch niederen Tätigkeiten wie dem Schreiben nachzugehen, folgt de Vere seiner Leidenschaft. Jahre später erkennt er bei einem Theaterbesuch, welche Macht die Worte der Bühnendarsteller auf das Publikum ausüben. Er sorgt dafür, dass der wegen Verfassen aufrührerischer Texte verhaftete Autor Ben Jonson (Sebastian Armesto) freigelassen wird und bietet ihm einen Handel an. Jonson soll unter seinem Namen de Veres Stücke am Theater aufführen. Doch darf niemand davon erfahren, dass der Graf von Oxford der eigentliche Autor ist.
Die erste Aufführung, bei der Jonson einen anonymen Autor angibt, ist ein voller Erfolg, auch wenn sie sprachlich ganz anders klingt, als alles, was das Publikum bislang zu hören bekam. Doch als nach dem Namen des Schreibers verlangt wird, drängt der Schauspieler William Shakespeare (Rafe Spall) in den Vordergrund. Dieser genießt fortan das Rampenlicht und beginnt, als er de Veres Identität erfährt, ihn zu erpressen. Dabei spitzt sich die politische Situation am Königshof unter der Einflussnahme William Cecils (David Thewlis) auf die Königin zunehmend zu ...


Kritik:
Anonymus stellt in Frage, ob William Shakespeare die Werke, die ihm zugeschrieben werden, tatsächlich selbst verfasst hat. Es ist hoffentlich keine Schande zu gestehen, bis vor der Ankündigung von Roland Emmerichs Film über eine solche Debatte, die angeblich schon seit über einem Jahrhundert in Gelehrtenkreisen geführt wird, nichts gehört zu haben. Dabei gilt diese Urheberschaftsfrage in der internationalen Shakespeare-Forschung nicht als legitim, selbst wenn sie viele namhafte Persönlichkeiten unterstützen. Emmerich schließt sich mit dem Drehbuchautor John Orloff der Oxford-Theorie an, laut der Edward de Vere, der Graf von Oxford, Autor der Stücke war. Dass der bekannte deutsche Filmemacher letztlich auf ein internationales Budget zurückgreifen musste, um Anonymus überhaupt zu stemmen, verwundert nicht: Seit den 1990er Jahren lag das Skript bereits bei den Studios auf Eis und selbst die Kinoveröffentlichung in den USA wurde kurz vor Start auf wenige Hundert Säle herunterreguliert. Es bleibt festzuhalten, dass egal auf welche Seite der Debatte um die Autorenschaft der Werke man sich letztlich schlägt, Roland Emmerich vor allem ein überraschend stimmiges Werk gelungen ist, das trotz der zahlreichen (und oft auch sichtbaren) Spezialeffekte das Gefühl für die Zeit um 1600 in London erfolgreich wiederauferstehen lässt.

Eingerahmt wird die Geschichte durch den Erzähler Derek Jacobi, seines Zeichens einer der bekanntesten Shakespeare-Akteure unserer Zeit und ebenfalls ein Anhänger der Oxford-Theorie. Er verkörpert vielleicht am besten, welchen Eindruck Anonymus letztlich hinterlässt, denn unabhängig davon wer nun Heinrich V [1599], Der Kaufmann von Venedig [1596] oder Romeo und Julia [1595] verfasst haben mag, überdauern die Werke und ihre lyrische Kraft die Jahrhunderte und definieren die englische Sprache, wie kaum ein anderes Schriftstück seither (oder jemals). Jacobi lädt uns ein, eine düstere Geschichte um die tatsächlichen Hintergründe William Shakespeares zu erfahren und übergangslos versetzt uns Emmerich gleich in mehrere Zeitebenen des 16. Jahrhunderts. Autor Ben Jonson wird von Robert Cecil gejagt und gefangen genommen; er soll Schriftstücke versteckt haben, die Cecil unbedingt in Besitz bekommen möchte. Hierfür wird sogar das Globe-Theater niedergebrannt. Dann erfahren wir, was fünf Jahre zuvor geschah, als Edward de Vere mit Jonson einen Handel abschloss, laut dem dieser von de Vere verfasste Werke am Theater aufführen sollte einzig unter der Bedingung, dass niemand erfahren würde, aus welcher Feder sie stammten. Jonson sollte sich sogar damit schmücken, und tatsächlich verzaubern die Worte selbst das weniger gebildete Publikum und ziehen es in ihren Bann. Doch durch eine unglückliche Fügung gibt sich jemand anders als der Autor aus – William Shakespeare, ein junger Schauspieler. Angesichts von de Veres adeligem Stand und der Tatsache, dass er einer solch niederen Beschäftigung wie dem Dichten nicht nachgehen soll, ist die Lage äußerst prekär. Der Schein bleibt gewahrt und Shakespeare wird weiter als Autor ausgegeben, bis die Dinge aus dem Ruder zu laufen drohen.
Doch ist dies nur ein Aspekt von Anonymus, denn in Rückblicken die 40 Jahre früher stattfinden, beobachten wir, wie der strebsame Graf von Oxford sich in die Königin Elisabeth I verliebt und trotz seiner Heirat zur Tochter ihres Vertrauten William Cecil ein Liebhaber der Königin wird. Es ist eine Beziehung, die nicht sein darf, weil die politischen Auswirkungen auch innerhalb Europas verheerend wären. Von weiteren Geheimnissen ganz abgesehen, welche die verschiedenen Figuren miteinander verbinden und zur Zeit der Veröffentlichung der Werke Shakespeares in politischen Intrigen münden, bei denen es mehr Verlierer als Gewinner gibt.

Wie viel hiervon Spekulation ist, wie viel Fakt und auf welche Theorien sich das Drehbuch stützt, sei dahingestellt, und erfreulicherweise macht es auch keinen Unterschied, ob man diese Einschätzungen teilen würde, oder nicht. Anonymus besitzt all jene Eigenschaften, die ein jedes Shakespeare-Werk ausmachen, wartet mit vielen Figuren, ihren verworrenen Beziehungen untereinander auf und richtet sich gerade darum an ein Publikum, das sich auf die Zusammenhänge einlassen möchte. Den Kontext um einen Machtkampf am britischen Königshaus zusammen mit der Essex-Rebellion und der Autorenfrage Shakespeares herzustellen ist Emmerich gut gelungen. Er erschafft ein Porträt jener Zeit und jener Figuren, das zumindest so glaubwürdig ist, dass es sich so zugetragen haben könnte und bringt es mit einer Sprache zum Ausdruck, die jener Zeit angemessen ist. Dass die Metropole London um 1600 in den Babelsberger Studios entstand sehen versierte Zuschauer zwar nicht selten, doch gewinnt der Film dadurch den Eindruck, als handle es sich dabei selbst um eine Bühnenaufführung – und das ist nicht negativ gemeint.


Fazit:
Die verschiedenen Affären, unehelichen Kinder, Mordkomplotte und Machtrangeleien erinnern an Seifenopern, wie man sie jeden Tag im Fernsehen zu sehen bekommt. Eine Ironie des Schicksals, dass wir zu oft so denken, erzählen die Seifenopern doch nach, was schon vor Jahrhunderten an den Königshäusern stattfand. Roland Emmerich verbindet man meist mit lauter Unterhaltung. Anonymus erzählt er dem Thema angemessen leise und mit Augenmerk auf die Figuren. Dabei jongliert er gekonnt und nicht weniger anspruchsvoll mit verschiedenen Zeitebenen und Charakteren, auf dass es nicht ohne Grund an Werke von William Shakespeare erinnert.
Dem ist nicht immer einfach zu folgen und vielleicht auch ein wenig zu lang, doch ist es ein interessanter und sehenswerter Beitrag zu einer Autorenfrage, die so sicherlich einem breiteren Publikum zugänglich wird, als zuvor. Dabei unterstreicht Anonymus jedoch mehr, dass egal, wer jene Stücke geschrieben hat, er/sie etwas schuf, das Bestand haben wird, solange es Menschen gibt. Es ist eine Aussage, der sich wohl beide Seiten der Urheberschaftsdebatte bedingungslos anschließen können.