Auf der Flucht [1993]

Wertung: 6 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 01. Oktober 2003
Genre: Thriller

Originaltitel: The Fugitive
Laufzeit: 130 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 1993
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Andrew Davis
Musik: James Newton Howard
Darsteller: Harrison Ford, Tommy Lee Jones, Sela Ward, Julianne Moore, Joe Pantoliano, Andreas Katsulas, Jeroen Krabbé, Daniel Roebuck, L. Scott Caldwell, Tom Wood


Kurzinhalt:
Als der erfolgreiche Chicagoer Chirurg Dr. Richard Kimble (Harrison Ford) eines Abends nach Hause kommt, liegt seine Frau (Sela Ward) im Sterben; ein einarmiger Mann (Andreas Katsulas) hat sie brutal niedergeschlagen – doch der Täter kann fliehen.
Die polizeiliche Untersuchung findet allerdings nur Beweise, die gegen Kimble sprechen, weshalb er zum Tode verurteilt wird. Auf dem Weg in seine letzte Haftanstalt gelingt Kimble bei einem Unfall die Flucht und er macht sich auf, den wahren Mörder seiner Frau aufzuspüren.
Ihm auf den Fersen sind US Marshal Sam Gerard (Tommy Lee Jones) und sein Team, allerdings ist Kimble seinen Verfolgern stets einen Schritt voraus – zumindest noch. Um die Hintergründe für die schreckliche Tat zu erfahren, muss der Gesuchte nach Chicago zurückkehren, aber neben einigen Freunden erwarten ihn dort die Drahtzieher der Ermordung – und Gerard ...


Kritik:
Das Konzept ist ansich recht einfach: Man nehme einen unbescholtenen Bürger und beschuldige ihn eines Verbrechens, das er nicht beging – fortan muss er den wahren Mörder suchen, immer auf der Flucht vor der Polizei und seinen Widersachern.
In unzähligen Filmen und Fernsehserien wurde diese Formel bereits angewendet; dennoch erreichte sie nie wieder den Kultcharakter und den Erfolg der sehr erfolgreichen Thriller-Serie Auf der Flucht [1963-1967], die Millionen Zuschauer in aller Welt vor die Bildschirme fesselte. Die letzte Episode war bis zu einer Dallas [1978-1991]-Folge die meistgesehene der USA – und das 20 Jahre vor der Ewing-Seifenoper. Seither wurde die Serie sogar neu aufgelegt und Richard Kimble rannte in Auf der Flucht – Die Jagd geht weiter [2000-2001] noch einmal 22 Episoden lang um sein Leben – allerdings wurde die Serie abgesetzt, bevor die Geschichte zu Ende gebracht werden konnte.
Es dauerte ganze 120 Episoden, bis Richard Kimble, dargestellt von David Janssen, in der Original-Serie den Mörder seiner Frau überführen konnte. 30 Jahre später wagte man sich an eine Kinoadaption des beliebten Stoffes, wobei verständlicherweise Vieles vereinfacht und verkürzt werden musste, um in 130 Minuten plausibel zur Geltung zu kommen. Trotzdem ist die Story des Auf der Flucht-Film-Remakes recht komplex gehalten – um alle Zusammenhänge zu verstehen, sollte der Zuschauer aufpassen. Was aber bedeutsamer ist: Regisseur Andrew Davis und seinen Darstellern gelang der beste, spannendste und unterhaltsamste Flucht-Thriller, der bisher auf der Leinwand zu sehen war. Dank schweißtreibender Spannung, die nicht durch aufgesetzte Action "verwässert" wird, Weltklasseschauspielern in Top-Form und einem cleveren Drehbuch galt der Film schon kurz nach seiner Premiere als Klassiker – und das zu Recht.

Eine Fernsehserie auf ins Kino zu hieven, endet nicht selten in einem Debakel (man denke nur solche Enttäuschungen wie Mit Schirm, Charme und Melone [1998] oder The Saint – Der Mann ohne Namen [1997], der auf der ebenfalls in den 1960ern sehr populären Serie Simon Templar [1962-1969] basiert). Zum einen muss man den Spagat zwischen Bekanntem und Neuem schaffen, um sowohl Zuschauer, die die Vorlage nicht kennen, als auch alteingesessene Fans der Serie zu interessieren, andererseits hat man die Geschichte soweit vereinfachen, dass sie in einem abendfüllenden Film Platz hat und dennoch logisch bleibt. In der Folge sind die Charaktere straffer vorzustellen und auszuarbeiten – und vor allem sollte der Film außerdem ohne Kenntnis der Serie verstanden werden können.
Da die Autoren David Twohy (Regisseur von Pitch Black – Planet der Finsternis [2000] ) und Jeb Stuart, der unter anderem den unterschätzten, aber gelungenen Thriller Switchback - Gnadenlose Flucht [1997] inszenierte, für die Filmumsetzung von Auf der Flucht bei Null anfingen, und weder Darsteller, noch Handlungselemente der Original-Serie miteinbeziehen mussten, hatte das Drehbuch eine gute Ausgangslage.
Es verlässt sich darauf, die Personen von Grund auf neu vorzustellen und erleichtert den Zuschauern so den Zugang. Bereits in den ersten Minuten wird man in das Leben von Richard Kimble geworfen und bekommt ihn gebrochen und verstört zu Gesicht. Es dauert verhältnismäßig lange, bis sein eigentlicher Widersacher, US-Marshal Gerard, die Bühne betritt, und auch ihm verliehen die Macher eine prägnante Einführungsszene, die den Charakter grundlegend definiert. Im Verlauf der Hetzjagd bringt das Skript immer wieder spannende und überraschende Szenen hervor, deckt ein Puzzle-Stück des Rätsels um den Tod von Kimbles Frau nach dem anderen auf, und ermöglicht es dem Zuschauer auf diese Weise, selbst herauszufinden, wieso ausgerechnet Kimble der Mord angehängt werden sollte.
Neben pointierten und stellenweise durchaus witzigen Dialogen gibt es reihenweise Einzeiler, die einem im Gedächtnis haften bleiben; dabei richtet sich das Skript allerdings eindeutig an erwachsenere Zuschauer.
Mehr darf man zum Inhalt ansich nicht verraten, denn jede Szene bietet sehr viel Überraschendes zu entdecken.

Tommy Lee Jones gewann für seine Rolle als kratzbürstiger, nichtsdestotrotz fairer Marshal Sam Gerard sogar den Oscar, und das ohne Frage verdient. Zu beobachten, wie er in seiner Rolle aufgeht, ist ebenso amüsant wie beeindruckend.
Dem steht Harrison Ford als gebrochener Ehemann, der sich von einem Moment auf den anderen in der Todeszelle wiederfindet, in nichts nach. Seinen Schock bringt der herausragende Darsteller mit einer mimischen Brillianz zum Ausdruck, dass die Verzweiflung regelrecht spürbar und zu jeder Zeit glaubhaft ist. Zweifellos hätte auch er eine Auszeichnung verdient, wurde für den Golden Globe aber nur nominiert. Ford gab im übrigen zu, niemals auch nur eine Episode der TV-Serie gesehen zu haben, bis er die Rolle spielte.
Die beiden Ikonen der Schauspielkunst liefern sich ein Duell, dass es eine Freude ist, daran teilhaben zu dürfen – und das, obwohl sie nur sehr wenige Szenen zusammen haben.
Sela Ward hat als Helen Kimble einen sehr kleinen Part, ergreifend ist sie dennoch. Als einarmiger Mörder könnte Andreas Katsulas (bekannt als G'Kar in der TV-Serie Babylon 5 [1994-1998]) nicht furchteinflössender sein, seine Präsenz – gleichwohl er nur wenige Auftritte hat – ist außerordentlich beeindruckend und ihm passt die Rolle wie angegossen. Ebenfalls nur kurz zu sehen ist Julianne Moore.
Jeroen Krabbé (James Bond 007 - Der Hauch des Todes [1987]) stieß eher zufällig zum Projekt; der ursprünglich verpflichtete Darsteller Richard Jordan musste die Rolle des Dr. Charles Nichols aus gesundheitlichen Gründen ablehnen – Krabbé fügt sich in das Ensemble trotzdem tadellos ein.
Insgesamt betrachtet ebenfalls nur selten auf der Leinwand zu sehen ist das Team um Sam Gerard, doch die anderen US-Marshals geben ein perfekt eingespieltes und überzeugendes Team ab. Es ist nicht verwunderlich, dass Joe Pantoliano, Daniel Roebuck, L. Scott Caldwell und Tom Wood fünf Jahre später mit der indirekten Fortsetzung Auf der Jagd [1998] erneut ins Feld geschickt wurden; die Idee eines Spin-Offs um die Truppe ist keine schlechte Idee, denn die Charaktere sind ausbaufähig und durchweg sympathisch.

Zusätzlich zu den ausgezeichneten Darstellern erwartet den Zuschauer eine hervorragende und einfallsreiche Inszenierung, die gekonnt mit Rückblenden und malerischen Landschaftsaufnahmen hantiert.
Nicht nur in den spannenden und actionreichen Sequenzen – wie zum Beispiel dem fulminant gefilmten Zug-Unglück – kommt genügend Tempo auf, von der ersten Sekunde an legt Auf der Flucht ein atemberaubende Rasanz vor, die sich aber in erster Linie durch sorgfältigen Szenenaufbau, und nicht durch vordergründige Actionmomente auszeichnet.
Wenn Richard Kimble rennt und flieht, rennt der Zuschauer mit ihm, seine Flucht ist so aufregend und atmosphärisch dicht geraten, dass die 130 Minuten wie im Flug vergehen – nicht zuletzt, da die Marshals ihm ständig dicht auf den Fersen sind. Zusammen mit dem Puzzle um die Ermordung von Kimbles Frau ist darüber hinaus das Hirn des Zuschauers genügend gefordert, der Geschichte zu folgen.

Einen großen Teil zur Spannung trägt der Oscar-nominierte Score von James Newton Howard bei, der ohne Zweifel als Referenz im Genre bezeichnet werden kann. Neben eingängigen Themen, die sich der Stimmung im Film anpassen und den Szenenverlauf unterstreichen, gibt es einige temporeiche Stücke, die sich mitreißend in ein orchestrales Finale steigern.
James Newton Howards zeitloser Soundtrack verbindet klassisches Orchester mit spärlich eingesetzten Synthesizerklängen; gerade sie sind es, die im Gesamtkonzept die Musik veredeln.
Leider ist auf dem erhältlichen Soundtrack-Album nur ein Bruchteil des kompletten Scores zu hören, lohnenswert ist es dennoch.

Wer der Meinung ist, Harrison Ford im Film immer wieder humpeln zu sehen, täuscht sich nicht: Zu Beginn der Dreharbeiten verletzte sich der Darsteller bei Aufnahmen im Wald, wollte sich allerdings nicht operieren zu lassen, so dass er in den darauffolgenden Szenen "realistisch" hinken konnte.
Die Zuschauer dankten ihm seinen Einsatz mit einem weltweiten Einspielergebnis von über 350 Millionen Dollar; bei einem Budget von nur 44 Millionen ein gewaltiger Erfolg.
Abgesehen davon gibt es noch viel Interessantes über die Produktion zu berichten. So hat der Vorspann eine erstaunliche Länge von 14 Minuten am Anfang des Filmes, die Verfolgungsjagd durch die St. Patrick's Day Parade in Chicago wurde vollständig improvisiert, und auch die berühmte Dialogzeile von Tommy Lee Jones, in der er bekräftigt, dass es ihm egal ist, ob Kimble seine Frau ermordete, wurde von Jones erst am Set eingebracht; ursprünglich hätte er mit der Zeile "das ist nicht mein Problem" antworten sollen.
David Janssen, der Kimble in der Serie verkörperte, starb leider 13 Jahre vor Drehbeginn des Films und konnte somit nicht daran teilnehmen, seine Mutter ist allerdings im Gerichtssaal zu Beginn zu sehen und sitzt hinter Harrison Ford, als der Notruf von Helen Kimble vorgespielt wird.

Man könnte ewig über Auf der Flucht reden, doch damit würde man viel von den Überraschungen und der Atmosphäre des Filmes nehmen; all denjenigen, die ihn nicht kennen, sei nahegelegt sich den Film schnellstmöglich anzuschauen – dank der gelungenen Synchronisation ist auch die deutsche Fassung ein Genuss, obwohl das Original noch einen Tick besser herüberkommt.
Als Flucht-Thriller ist Andrew Davis' Meisterwerk nicht nur ein hervorragendes Beispiel, wie spannend und einfallsreich eine Hetzjagd im Kino sein kann, es sollte überdies als Muster dafür dienen, wie eine Fernsehserie auf die Leinwand gebracht werden muss. Trotz neuer Darsteller und einem leicht veränderten Setting ist der Ton der Serie erhalten geblieben und in einem der beeindruckendsten Flüchtlingsszenarien verewigt worden.


Fazit:
Man könnte Tommy Lee Jones und Harrison Ford für ihre wirklich einzigartigen darstellerischen Leistungen loben, oder Regisseur Andrew Davis zu seiner bisher besten und ausgefeiltesten Regie-Arbeit gratulieren.
Doch statt nur einzelne Elemente von Auf der Flucht herauszupicken, kann man den Film auch als das bezeichnen, was er ist: Ein herausragender Thriller, der das Beste von allen Beteiligten forderte und selbiges zu Tage brachte. Es gibt nichts, was man hier hätte besser machen können.
Wer sich das entgehen lässt, ist selber schuld: The Fugitive ist einer der gelungensten und beeindruckendsten Thriller der 1990er Jahre und besitzt mehr Details und Nuancen, als man ansich in zwei Stunden Film erwarten würde. Obwohl das Thema in den letzten 40 Jahren immer wieder neu aufgelegt wurde – so spannend und gekonnt war es nie umgesetzt worden.