Der perfekte Chef [2021]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 12. Juli 2022
Genre: Komödie

Originaltitel: El buen patrón
Laufzeit: 120 min.
Produktionsland: Spanien
Produktionsjahr: 2021
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Fernando León de Aranoa
Musik: Zeltia Montes
Besetzung: Javier Bardem, Manolo Solo, Almudena Amor, Óscar de la Fuente, Sonia Almarcha, Fernando Albizu, Tarik Rmili, Rafa Castejón, Celso Bugallo, Francesc Orella


Kurzinhalt:

Für Firmenbesitzer Julio Blanco (Javier Bardem) hängt alles von den kommenden Tagen ab. Seine traditionsreiche Firma „Blanco-Waagen“ wird in Kürze auditiert und könnte einen wichtigen Preis verliehen bekommen, der sich nicht nur für die Trophäenwand in seinem Haus eignen würde. Doch derzeit läuft Vieles unrund. Sein Produktionsleiter Miralles (Manolo Solo) ist durch private Probleme abgelenkt, der kürzlich gekündigte José (Óscar de la Fuente) protestiert vor dem Firmengelände, was das Preis-Komitee nicht gut aufnehmen würde, und der langjährige Mitarbeiter Fortuna (Celso Bugallo) bittet Julio, sich für seinen Sohn einzusetzen, der kürzlich verhaftet wurde. Immerhin scheint die neue Praktikantin Liliana (Almudena Amor) dem kinderlos mit Adela (Sonia Almarcha) verheirateten Blanco zugetan, sehr zu dessen Gefallen. Aber nicht nur, dass sich die Affäre als verhängnisvoller entpuppt, als angenommen, dem sonst so kontrollierenden Julio entgleiten die zahlreichen Problemstellen zusehends …


Kritik:
Gleichgewicht ist der Schlüssel zu allem in der Welt des von Javier Bardem fantastisch gespielten Chefs einer Waagen-Fabrik in Fernando León de Aranoas Der perfekte Chef. Er selbst sieht sich als derjenige, der die Dinge in eben jenes Gleichgewicht bringen kann, oder sogar muss. Zuzusehen, wie er dabei auf kolossale Weise zu scheitern droht, macht den Reiz dieser teils bösen Komödie aus, die eine der am feinsten schattierten Darbietungen des vergangenen Kinojahres zeigt.

Nach einem kurzen Prolog beginnt die Erzählung mit einer Ansprache, die Blanco vor den Angestellten seines eng geführten Familienunternehmens gibt. Darin erklärt er die Bedeutung der Firma, das Gemeinschaftsgefühl der Belegschaft und was für ein weiterer Triumph es sei, dass „Blanco-Waagen“ Finalist einer möglichen Auszeichnung ist, die sich mit Transparenz und Werten beschäftigt. Dass mit der Auszeichnung auch Fördergelder verbunden wären, erwähnt er nicht. Doch schon, als kurz darauf die aktuellen Praktikantinnen verabschiedet werden, nimmt das Publikum wahr, dass Julio Blanco nicht so unbescholten ist, wie er tut. Werden wenig später die neuen Praktikantinnen vorgestellt, wird deutlich, dass der kinderlose, verheiratete Blanco mehr als nur berufliches Interesse an den jungen Frauen hegt. Die Firma soll in Kürze von einem Komitee auditiert werden, weshalb schlechte Presse das letzte ist, was Blanco gebrauchen kann. Umso schlimmer, dass momentan nichts nach Plan zu laufen scheint. Ein kürzlich entlassener Mitarbeiter schlägt ein Camp gegenüber dem Firmengelände auf und brüllt seine Forderungen einer Wiedereinstellung durch ein Megaphon, der Produktionsleiter Miralles, den Blanco bereits seit Kindertagen kennt, ist auf Grund von Eheproblemen nicht bei der Sache, was für Schwierigkeiten bei der Auslieferung führt, und der Mitarbeiter Fortuna bittet Blanco, sich für seinen Sohn einzusetzen, der verhaftet wurde, nachdem er andere Jugendliche angegriffen hat.

So schickt sich Julio Blanco an, das Gleichgewicht all dieser Problemzonen wiederherzustellen. In der Regel gelingt ihm dies dadurch, dass er den Betroffenen Geld bietet, doch dieses Mal funktioniert dies nicht. So wird der streikende Ex-Mitarbeiter so lange ignoriert, verliert neben seiner Arbeit alles, was ihm im Leben wichtig war, dass ihm alles Geld der Welt nicht mehr ausreichen würde. Da an Miralles’ Glückseligkeit maßgeblich seine Noch-Ehefrau beteiligt ist, die sich nicht vorschreiben lässt, was sie tun oder lassen soll, beißt Julio Blanco auch bei ihr auf Granit. So könnte er allenfalls in der sich anbahnenden Affäre mit Liliana sein Ziel erreichen, doch entpuppt sich diese als bedeutend folgenreicher, als er sich ausgemalt hat, und setzt ihn zusätzlich unter Druck. Um zu verstehen, weshalb diese scheinbar profanen Storyfäden ausreichen, in Der perfekte Chef eine so amüsante Geschichte zu erzählen, muss man sich vor Augen führen, welche Art Figur Julio Blanco ist.

Dies lässt sich am besten an zwei Punkten veranschaulichen: Befindet sich an der Werkseinfahrt eine funktionierende Waage (immerhin ein Aushängeschild der Firma), die jedoch nicht geeicht ist und offenbar nicht im Gleichgewicht. Über die knappe Woche, über die sich die Ereignisse des Films erstrecken, wurmt dieser Umstand Blanco so sehr, dass er nicht nur Vögel mit der Autohupe von der Waage verjagt, sondern schließlich zu martialischen Mitteln greift, selbige wieder ins Lot zu bringen. Und während das Preis-Komitee die Firma noch gar nicht besucht hat, um sich vor Ort einen Blick über die Preiswürdigkeit der Umstände zu machen, hat Blanco an seiner Trophäenwand zuhause bereits einen Platz auserkoren und reserviert, um die kommende Plakette ebenfalls unterzubringen. So sicher ist er sich seiner Sache. Entziehen sich diesem alles kontrollierenden Magnaten nun Zug um Zug all diejenigen Fäden, die er fest in Händen glaubte, ist das mindestens so amüsant, wie sein Bestreben, die Kontrolle wiederzuerlangen faszinierend.

Umso mehr, da Javier Bardem die Figur mit einem geradezu beängstigenden Selbstverständnis zum Leben erweckt. Seine Mimik, sein Blick allein sind dabei so vielsagend wie undurchschaubar zugleich und verliert er in einem Moment tatsächlich die Beherrschung, könnte der Kontrast größer kaum sein zu jenem Abendessen mit Familienfreunden, bei dem er in Anbetracht der Gefahr für sein Kartenhaus in dieser Situation so sichtbar leidet. Es ist eine so beeindruckende Darbietung, dass man allein seinetwegen bereits lange Zeit mit einem Lächeln im Gesicht das Geschehen beobachtet. Dazu zählt auch, wie gelungen die verschiedenen Storyfäden letztlich zusammengeführt werden. Das tröstet darüber hinweg, dass Fernando León de Aranoas Der perfekte Chef ein wenig zu lang geraten ist und sich die Momente mit dem gekündigten Mitarbeiter und dem Wachmann etwas wiederholen. Doch das wirft die Geschichte insgesamt nicht aus der Balance.


Fazit:
Nicht nur, dass Julio Blanco von Werten und Integrität spricht, in Wirklichkeit jedoch das Gegenteil hiervon auslebt (umso mehr, wenn er einem in Auflösung befindlichen Ehepaar Vorschriften hinsichtlich der Treue machen will), lange Zeit hat man wenigstens den Eindruck, er hätte das Firmenimperium selbst erschaffen – was sich jedoch als Fehlannahme herausstellt. Javier Bardem seziert in einer fantastisch charismatischen Darbietung die Doppelmoral der privilegierten Schicht, der die Verwerflichkeit des Machtmissbrauchs ebenso wenig in den Sinn kommt, wie was ihre Handlungen an Konsequenzen für andere bedeuten könnten. In einer teilweise durch die Dialoge und Verhaltensweisen der Figuren bitterbösen Satire arbeitet Fernando León de Aranoa diese Punkte heraus, mäandriert aber inhaltlich stellenweise und lässt Der perfekte Chef so länger werden, als er sein müsste. Doch zahlreiche Momente treffen ins Schwarze, so dass ein Publikum, das bereit ist, auf diese Zwischentöne zu achten und sich von einer meistens elegant erzählten sowie von den Dialogen ebenso rhythmisch getragenen Erzählung mitnehmen zu lassen, hier bestens unterhalten wird. Zuzusehen, wie die Welt der Hauptfigur aus der Balance gerät, ihm immer mehr entgleitet, ist mehr als sehenswert.