Wunderschön [2022]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 20. Januar 2022
Genre: Drama

Laufzeit: 131 min.
Produktionsland: Deutschland
Produktionsjahr: 2020
FSK-Freigabe: ab 6 Jahren

Regie: Karoline Herfurth
Musik: Annette Focks
Besetzung: Emilia Schüle, Nora Tschirner, Karoline Herfurth, Dilara Aylin Ziem, Martina Gedeck, Joachim Król, Friedrich Mücke, Maximilian Brückner, Luna Arwen Krüger, Thelma Buabeng, Sarah Bauerett, Eve Borchardt, Marlene Burow


Kurzinhalt:

Eigentlich war die 59jährige Frauke (Martina Gedeck) davon ausgegangen, dass wenn ihr Mann Wolfgang (Joachim Król) in den Vorruhestand geht, sie mehr Zeit für einander haben. Doch sämtliche Versuche, ihm wieder näher zu kommen, werden abgewehrt. Mitten im Leben steht auch die zweifache Mutter Sonja (Karoline Herfurth), deren Mann Milan (Friedrich Mücke) gerade eine Beförderung erhalten hat, während sie den Alltag bewältigt. Als sie Aussicht hat, auch wieder arbeiten zu gehen, ist Milan wie vor den Kopf gestoßen und bemerkt dabei nicht, dass sich Sonja in ihrem durch die Schwangerschaften veränderten Körper fremd und unwohl fühlt. Das kann ihre Freundin, die Lehrerin Vicky (Nora Tschirner) nicht nachvollziehen, die nicht mehr will, als ein Abenteuer für eine Nacht, bis der neue Sportlehrer Franz (Maximilian Brückner) sie genau deshalb ablehnt. Währenddessen droht die Welt von Julie (Emilia Schüle) in sich zusammenzubrechen. Die Mittzwanzigerin ist Model und Aushängeschild für „Perfectly Strong“, deren neue Kampagne angeblich Authentizität versprechen, für die Julie jedoch zu alt und zu dick sein soll. Dabei spielt die junge Frau ihren Followern auf Social Media ein glückliches und erfolgreiches Leben vor, wirft aber das fotografierte Essen weg, um nicht zuzunehmen. Julie ist Vorbild für viele Mädchen, darunter auch Leyla (Dilara Aylin Ziem), die wegen ihrem starken Übergewicht in der Schule entweder gehänselt oder bestenfalls ignoriert wird. Dass ihre Mutter Julies Modelagentur leitet und sie dem dort propagierten Ideal nicht gerecht wird, macht ihr Leben nicht einfacher. Dabei vereint diese unterschiedlichen Frauen mehr, als sie vermuten …


Kritik:
Karoline Herfurths dritte Spielfilmregiearbeit Wunderschön ist ein geradezu entzauberndes Filmerlebnis. Es ist ein Drama mit zahlreichen deutschen Stars, aber ohne Glamour. Ein Blick hinter die Fassaden in den Alltag von fünf Frauen in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens, die alle an den Erwartungen, die andere und sie selbst an sich stellen, zu zerbrechen drohen, oder es bereits sind. Erzählt ist dies auf eine unmittelbare Art und Weise, die berührt und bewegt, durch alle Altersgruppen hinweg.

Manche der Figuren verbindet mehr als nur ihr alltäglicher Kampf mit sich selbst und ihrer Umwelt, wie später im Film deutlich wird. Er beginnt mit einer kurzen Vorstellung aller Beteiligter, angefangen von der Kunstlehrerin Vicky, die nach ihrem One-Night-Stand halb angezogen aus dessen Wohnung flieht, während er noch das Frühstück vorbereitet. Sie glaubt nicht an die Liebe, ein Konzept, bei dem sich ihrer Auffassung nach alle Parteien irgendwann in Kompromissen nur zurücknehmen. Das Ehepaar Frauke und Wolfgang, sie beinahe 60 Jahre alt, er etwas älter und seit Kurzem im Vorruhestand, scheint genau dieses Klischee zu verkörpern, denn als sie morgens im Bett versucht, wieder Lebendigkeit in die Beziehung zu bringen, endet der Moment für beide peinlich und mit einer Abweisung. Dann gibt es Sonja, Mutter von zwei Kindern, die seit vier Jahren Zuhause ist, während ihr Mann Karriere macht. Gezeichnet von der Schwangerschaft, ist sie mit ihrem Körper ebenso unzufrieden, wie mit ihrer Lebenssituation. Nachdem die 25jährige Julie als Model von ihrer eigenen Agentur auf das Abstellgleis gesetzt wird, versucht sie unermüdlich ehrgeizig alles, um sich „medial“ interessant zu halten, hungert, treibt Sport und ist durch ihre Social Media-Posts, die eine heile Welt versprechen, ein Vorbild für junge Frauen wie Leyla, deren Mutter eben Julies Modelagentur leitet, die aber auf Grund ihres Übergewichts nie dem Ideal entspricht, das ihr vorgelebt wird.

Sieht man sich diese unterschiedlichen Figuren an, wird eine jede bzw. ein jeder sich irgendwo wiederfinden, oder Menschen aus dem persönlichen Umfeld, die in eben einer solchen Situation sind. Das lange verheiratete Ehepaar, bei dem man die persönliche Berührungen kaum zu sehen bekommt (nicht einmal, wenn eine tragische Situation die Angehörigen zusammenschweißen sollte), die junge Frau, die nur für ihre Internetpräsenz zu leben scheint und im wahren Leben nicht ansatzweise so oft lächelt, wie sie es auf den zahlreichen Selfies tut. Oder eben diejenigen, die mit ihrem Selbstbild nicht zufrieden sind und durch die Schlanken, Reichen und Schönen, die einen von jedem Plakat, aus jeder Sendung heraus und in jedem Internetprofil anstrahlen, vor Augen geführt bekommen, dass sie dem Wunschbild nicht entsprechen. Wunderschön stellt all diese Figuren vor, die, obwohl sie in unterschiedlichen Abschnitten ihres Lebens angekommen sind und sie augenscheinlich nur wenig gemein haben, doch etwas verbindet. Die Porträts, die Filmemacherin Karoline Herfurth dabei zeichnet, könnten entwaffnender kaum sein. Sei es Julie, die für einen flachen Bauch bei einem Fotoshooting zuerst Abführmittel nimmt, später einen Tablettencocktail, um weiter abzunehmen, und danach harte Drogen, um in beste Stimmung für die Kameras zu kommen. Frauke versucht ihren Mann für einen Tanzkurz zu begeistern, etwas, das sie gemeinsam unternehmen, doch er findet das albern, so dass sie dies nur noch mehr entzweit. Leyla wird von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern kaum wahrgenommen und fühlt sich doch von ihrer Lehrerin Vicky angesprochen, die ihnen zu vermitteln versucht, dass das Selbstwertgefühl nicht vom Äußeren abhängt.

Zeigt Herfurth schließlich bei der von ihr selbst gespielten Sonja die „Kampfspuren“ ihrer zwei Schwangerschaften, die den Körper gezeichnet haben und deren Anblick sie so sehr belastet, dass sie sogar eine Operation in Betracht zieht, erscheint dies so ehrlich wie ungeschönt. Der Druck, den sich Sonja selbst auferlegt und der ihr durch das Frauenbild, das gerade heute in der Gesellschaft propagiert wird, wonach man alles gleichermaßen und mühelos unter einen Hut bringen sollte, Familie, Karriere und Gesundheit, ist greifbar und die Auswirkungen schlicht erschreckend. Dass Sonja die Möglichkeit hat, wieder zu arbeiten, sich chic anzuziehen und wieder intellektuell gefordert zu werden, hat sichtbare Auswirkungen auf sie – und stellt ihre Ehe mit Milan vor eine Herausforderung, der sich zu Beginn nicht in der aktiven Vaterrolle sieht, die er nun aber in der Familie mit übernehmen muss. Dabei werden die männlichen Charaktere nicht, wie es oft geschieht, als diejenigen dargestellt, die die Entwicklungen der weiblichen Figuren verhindern. Im Gegenteil, doch fordert Wunderschön spürbar dazu auf, dass die Frauen in der Geschichte auch fordern müssen, was sie erwarten und wohin sie sich entwickeln wollen.

Wunderschön ist bemüht, Antworten darauf zu finden, wie dies gelingen kann, mit Höhen und Tiefen. Wie wenn Julie durch ein Mädchen in der Nachbarschaft, das sie immer wieder besucht und in ihr offenbar eine große Schwester, oder sogar die Mutter sieht, die sie nicht mehr hat, vor Augen geführt bekommt, worauf es im Leben an sich ankommen sollte, nur um dann wieder in alte Muster zurück zu fallen. Oder wenn Leyla eine Beschäftigung findet, die sie an ihren Vater erinnert und ihr Freude bereitet, ihre Mutter dies aber ablehnt, weil für sie selbst die Erinnerung zu schmerzlich ist. Diese Achterbahnfahrt ist mehr als nur gelungen, nimmt mit und berührt gleichermaßen. Mag sein, dass sie am Ende zu versöhnlich gerät und mit einem zu erhobenen Zeigefinger eine Botschaft dem Publikum in Worten mit auf den Weg geben möchte, die man ohnehin bereits verstanden hat. Doch das verzeiht man schon deshalb gern, weil die Figuren sich dieses Ende alle hart erkämpft haben.

Zum Leben erweckt ist dies durch eine erstklassige Besetzung, die durchweg gefordert ist und der der Spagat gelingt, die alltäglichen Momente ebenso zur Geltung zu bringen wie die herausfordernde Reise, auf der sich ihre Charaktere befinden. Allen voran Emilia Schüle, die in der Rolle der Julie die ehrgeizige Seite der jungen Frau gleichermaßen ausdrückt wie ihre Verletzlichkeit. Als Ehefrau, die ihre eigenes, selbstbestimmtes Leben eine Generation lang der Familie untergeordnet hat, kann man in Martina Gedecks Darbietung sowohl das Verlangen nach der ihr lange verwehrten, privaten Erfüllung sehen, wie auch die sich aufstauende Wut, die sich irgendwann entlädt. Preiswürdig authentisch ist auch Karoline Herfurth selbst, deren Sonja die schönsten und traurigsten Momente ihres Familienlebens, allein und mit ihren Liebsten erlebt. Dilara Aylin Ziem und Nora Tschirner bekommen ebenfalls starke Momente, in denen sie glänzen dürfen und auch die männliche Besetzung ist toll zusammengestellt. Die Balance, die Wunderschön für die Personen im Zentrum findet, wirkt so natürlich, dass es sich nach kurzer Zeit vertraut anfühlt. Das ist, um es einfach zu sagen, wunderschön.


Fazit:
So unterschiedlich die Frauen sind, die hier vorgestellt werden, sie alle drohen an dem Bild, das die Gesellschaft als Ideal vorgibt, kaputtzugehen. Fernab der üblichen Klischees ist Karoline Herfurths Drama einer der bewegendsten und vermutlich ehrlichsten deutschen Filme der vergangenen Jahre, der einen entblätternden Blick auf unsere Gesellschaft wirft, in der nicht die Natürlichkeit und selbstbestimmte Lebensweise der Menschen, sondern ihre „Optimierung“ im Zentrum steht. Die Sehnsüchte und Wünsche, die Lebenspläne, die mit der Wirklichkeit hier kollidieren, sind toll getroffen. Dies mündet in vielen berührenden Momenten, wenn die Fassaden, die die Personen aufrechterhalten, fallen und man einen Einblick in die Charaktere erhält. Mag sein, dass Manches am Ende etwas zu hübsch aufgelöst wird, aber deshalb ist es trotzdem mit viel Gespür für die Zwischentöne und einem beeindruckenden Feingefühl erzählt. Abseits des meist seichten deutschen Humorkinos oder erzwungen anspruchsvoller Tragikomödien, ist Wunderschön das Leben abbildendes Erzählkino in Höchstform. Aktuell, relevant und mit inspirierend Mut machenden, wichtigen Aussagen über starke Figuren, die sich ihrer Stärke zum Teil nicht einmal selbst bewusst sind. Zum Wohlfühlen und wertvoll.