The 355 [2022]

Wertung: 3 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 5. Januar 2022
Genre: Action / Thriller

Originaltitel: The 355
Laufzeit: 124 min.
Produktionsland: China / USA
Produktionsjahr: 2021
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Simon Kinberg
Musik: Junkie XL
Besetzung: Jessica Chastain, Lupita Nyong’o, Diane Kruger, Penélope Cruz, Fan Bingbing, Sebastian Stan, Édgar Ramírez, Emilio Insolera, Jason Wong, John Douglas Thompson


Kurzinhalt:

Als der CIA und anderen Geheimdiensten ein sogenannter „Masterkey“ angeboten wird, eine Festplatte, mit deren Hilfe man sich in alle Systeme der Welt hacken und diese manipulieren kann, sieht CIA-Direktor Marks (John Douglas Thompson) das verheerende, zerstörerische Potential und schickt seine beste Agentin, Mace (Jessica Chastain) und ihren Partner Nick (Sebastian Stan), nach Paris, um mit Luis (Édgar Ramírez) einen Deal der Disc zu machen. Doch das Geschäft platzt, weil die BND-Agentin Marie Schmidt (Diane Kruger) die Disc zu stehlen versucht. So schickt sich Mace an, mit Hilfe der befreundeten, beim britischen MI6 tätigen Khadijah (Lupita Nyong’o), die Disc aufzuspüren. Den Schlüssel dazu hält Graciela (Penélope Cruz), eine Vertraute von Luis. Doch inzwischen sind viel mehr Parteien an dieser Waffe interessiert und bereit, zu töten, wer sich ihnen in den Weg stellt. So müssen die vier unterschiedlichen Expertinnen zusammenarbeiten, um zu verhindern, dass die Technologie in falsche Hände gerät. Dabei überwacht die mysteriöse Lin Mi Sheng (Fan Bingbing) unbemerkt jeden ihrer Schritte …


Kritik:
Filmemacher Simon Kinberg, der mit seinem Spielfilmregiedebüt X‑Men: Dark Phoenix [2019] gewissermaßen den Sargnagel jenes Comicfilm-Franchise inszenierte, präsentiert mit The 355 einen Agententhriller, der in seinem Verlauf nur frustrierender wird. Frustrierend deshalb, da sich das darin schlummernde Potential ebenso deutlicher abzeichnet wie die Schwächen, die verhindern, dass die erlesene Besetzung um vier starke Frauenfiguren dieses Potential auch auszuschöpfen vermag.

Eine Ursache hierfür ist, dass die Verantwortlichen nicht darum bemüht sind, eine packende Geschichte zu erzählen, sondern offenbar eine Filmreihe, ein Franchise, zu etablieren. So bleibt eine große Verschwörung am Ende nur angedeutet, aber nicht aufgelöst und auch sonst hängen einige Figuren und Storyfäden in der Luft. Dabei beginnt die Geschichte durchaus vielversprechend. In Kolumbien versucht ein Kartellboss, eine Festplatte zu verkaufen, mit der sich sämtliche Systeme der Welt hacken und manipulieren lassen. Doch der Deal geht, wie zu erwarten, schief und wenig später versucht der Nachrichtendienstbeamte Luis, die Disc an die größten Geheimdienste der Welt zu verkaufen. Darunter die CIA-Agentin Mace, die sich bei einer geplanten Übergabe in Paris unter anderem der ebenfalls an der Disc interessierten Marie Schmidt des deutschen BND gegenübersieht. Als sie bemerken, dass es noch weitaus mehr Parteien gibt, die bereit sind, jeden für diese Waffe zu töten, tun sie sich mit Khadijah des britischen Geheimdienstes und Graciela, die ebenfalls für die kolumbianischen Behörden arbeitet, zusammen. Nur gemeinsam können sie verhindern, dass die Disc in die falschen Hände gerät.

Das klingt interessant, wenn auch altbekannt. Und tatsächlich gibt es hier keine Szene, keinen Dialog, den man nicht genau so schon unzählige Male gehört hat. Angefangen vom besten Freund, mit dem sich Mace eine Beziehung nicht vorstellen kann, um die Freundschaft zu gefährden, bis hin zu der neuen Art Krieg im Informationszeitalter, während man „im Kalten Krieg noch wusste, wer die Feinde waren“. Dass man geneigt ist, hierüber hinwegzusehen, liegt bei The 355 an der Besetzung, angeführt von Jessica Chastain als Mace, die den Tod eines ihr nahestehenden Menschen rächen will und dabei selbst im Verdacht steht, eine Verräterin zu sein. Die distanzierte, unnachgiebig kämpferische Art zeichnet Chastains Figur aus und wird toll zur Geltung gebracht. In den Schatten gestellt von Diane Kruger, die als Marie eine solche entschlossene Härte ausstrahlt, dass keine Zweifel aufkommen, dass jeder ihrer Schläge sitzt. Das Team wird ergänzt durch die von Lupita Nyong’o gespielte Technikerin, die selbst wenn die Frauen auf der Flucht sind, noch überall Ausrüstung aufzutreiben scheint. Was für eine fantastische Darstellerin sie ist, beweist sie im letzten Drittel, selbst wenn ihre Figur bedauerlicherweise nicht die Möglichkeit zu glänzen bekommt, wie andere. Letzte im Bunde ist Penélope Cruz als Graciela, eine Agentin wider Willen, die an sich nur nach Hause zu ihrer Familie möchte.

Die unterschiedlichen Charaktere, von denen sich Marie und Mace ähnlicher sind, als sie anfangs zugeben, sind es, die The 355 interessant werden lassen und in den ruhigen Momenten gibt es hier durchaus starke Szenen. Insbesondere in der zweiten Filmhälfte. Zwei Elemente machen es schwer, dass dieser positive Eindruck bleibt. Da ist zum einen die Inszenierung selbst, die lediglich in den ruhigen Abschnitten zu überzeugen vermag. Die Action hingegen ist derart verwackelt, dass man kaum einen Überblick hat, wer sich wo in der Szenerie befindet. Die Verfolgungsjagd zu Fuß durch Paris am Anfang ist dabei noch ein besserer Abschnitt. Im weiteren Verlauf wird umso deutlicher, dass Regisseur Simon Kinberg offenbar den Stil der Jason Bourne-Filme kopieren möchte. Aber während dessen Filmemacher Paul Greengrass ebenfalls eine teils schwindelerregende Optik einsetzte, die Szenen selbst jedoch einen Aufbau besaßen, schießen oder prügeln die Figuren hier nur aufeinander ein, ohne dass sich das Geschehen in irgendeiner Art und Weise zuspitzen würde. Das Ergebnis sind Actionsequenzen wie diejenige am Pier oder später im Hotel, in denen viel geschossen wird und die Figuren sichtbar körperlich anstrengend kämpfen, aber es ist in etwa wie ein Menü, das man einmal in den Mixer gepackt hat – die Zutaten sind immer noch da, das Ergebnis ist jedoch weit weniger ansprechend.

Der andere große Kritikpunkt sind die Entscheidungen, die die Charaktere hier treffen und die im zunehmenden Verlauf der Geschichte immer weniger Sinn ergeben. Nicht nur, dass die weltbesten Agentinnen mit scheinbar unendlicher Munition in ihren Waffen kein Ziel treffen, das weiter als fünf Meter entfernt ist (nicht einmal, wenn mehrere gleichzeitig darauf schießen), Mace ist in der Lage, sich aus allerlei Situationen zu befreien, außer wenn das Drehbuch möchte, dass sie minutenlang mit einem Schurken kämpft, den sie schließlich überwältigt, ohne dass dafür besonderes Können notwendig gewesen wäre. Schlimmer noch, lassen sie die Schurken (und die Schurken die Frauen), selbst dann laufen, anstatt sie zu töten, wenn sie sie unbewaffnet und ausgeliefert vor sich haben. Sinn ergibt das keinen, außer, dass so der Rest des Films noch stattfinden kann, bei dem die große Wendung so lange absehbar ist, dass sie hoffentlich niemand im Kinosaal überraschen wird.

So glaubt das Drehbuch offenbar, es sei bedeutend schlauer, als es ist, und verlässt sich dabei auf allerlei Technikjargon, der oftmals eher an technische Zaubertricks erinnert, als an eine wirklich greifbare Bedrohung. Von hochauflösenden Überwachungskameras und Gesichtserkennung in den entlegensten Winkeln Marokkos bis hin zu einem „physischen“ Netzzugang, der offenbar darin besteht, dass man sich in einem Lüftungsschacht verkriecht und sich in ein WLAN-Netzwerk hackt. Das wirkt umso plumper, weil The 355 dem Publikum diese Elemente so neunmalklug unter die Nase hält. Auf eine Frage, die man sich als vernunftbegabter Mensch stellt, geht der Thriller dabei gar nicht ein: Wenn diese Waffe so gefährlich wie einzigartig ist, weswegen wird sie dann nicht einfach zerstört, wenn die Heldinnen sie (immer wieder) in Händen halten? Einfach nur, weil die Geschichte dann bereits an ihrem Ende angekommen wäre.

So gelungen die Figuren im Grunde sind, dabei emotional nahbarer und somit auch angreifbarer, als viele Helden anderer Agentenfilme, die Mission, die sie zu bestreiten haben, wird ihrem Potential bedauerlicherweise nicht gerecht. Schade.
Über die politische Aussage im Hintergrund sollte man darüber hinaus lieber nicht nachdenken. Denn wenn sich in einer chinesischen Ko-Produktion das gezeigte, chinesische Ministerium für Staatssicherheit als Behörde hervortut, die um internationale Zusammenarbeit bemüht ist, könnte man dies in Anbetracht der repressiven Vorgehensweise der chinesischen Staatsregierung hinsichtlich der Meinungs- oder Pressefreiheit allenfalls als Satire auffassen.


Fazit:
Nicht nur durch die gelungene, temporeiche Musik fühlt man sich mehr an ein Bourne-Abenteuer, als einen weiblichen James Bond-Film erinnert, wobei die Idee eines weiblichen Teams Agentinnen überaus vielversprechend klingt. Nicht zuletzt dank der Charaktere und der Schauspielerinnen dahinter. Doch macht es einem Simon Kinberg äußerst schwer, seinen Film als gelungene Unterhaltung zu genießen. So stark die weibliche Besetzung, die auch körperlich gefordert und dem mehr als gewachsen ist, und so sehr es auf packende Weise Spaß macht, ihnen zuzusehen, die Schurken der Geschichte sind allesamt schwach und dabei stark vorhersehbar. Gleichzeitig ist die Story bis zum Schluss so abstrus konstruiert, dass man dies gar nicht übersehen kann. Die uneinheitliche und in der Action fahrig umgesetzte Inszenierung tut ihr Übriges. Selten ist wirklich klar, wo wer in einem Actionmoment ist und viele an sich gute Stunts sind völlig verwackelt aufgenommen und obendrein verschnitten. Mit Twists, die voller Stolz präsentiert werden und allesamt lange absehbar sind, wird hier nichts zu Ende gebracht und immer etwas übrig gelassen, damit der Film weitergeht. Bis zur Andeutung einer möglichen Fortsetzung. Als Action-Fast-Food ist The 355 daher ganz unterhaltsam, aber gerade dank der Idee der „355“ und der Beteiligten vor der Kamera, hätte man hier bedeutend mehr erwartet.