Lost: Staffel 3 [2006 / 2007]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 21. Mai 2020
Genre: Drama / Thriller

Originaltitel: Lost: Season 3
Laufzeit: 993 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2006 / 2007
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Jack Bender, Paul Edwards, Stephen Williams, Tucker Gates, Paris Barclay, Eric Laneuville, Karen Gaviola, Frederick E.O. Toye, Bobby Roth
Musik: Michael Giacchino
Besetzung: Matthew Fox, Josh Holloway, Evangeline Lilly, Terry O’Quinn, Naveen Andrews, Henry Ian Cusick, Jorge Garcia, Yunjin Kim, Daniel Dae Kim, Dominic Monaghan, Emilie de Ravin, Michael Emerson, Elizabeth Mitchell, Nestor Carbonell, L. Scott Caldwell, Sam Anderson, Mira Furlan, M.C. Gainey, Tania Raymonde, John Terry, Sonya Walger


Kurzinhalt:

Die Gefahr für die Überlebenden des Oceanic-Fluges 815 wird stetig größer in Anbetracht der Bedrohung durch die „Anderen“, denen inzwischen Jack (Matthew Fox), Sawyer (Josh Holloway) und Kate (Evangeline Lilly) in die Hände gefallen sind. Der Anführer der Anderen, Ben (Michael Emerson), hat ganz eigene Pläne mit ihnen, für die er auch die Hilfe von Juliet (Elizabeth Mitchell) benötigt, die vor einigen Jahren auf die Insel gekommen ist. Während sich Sayid (Naveen Andrews), Jin (Daniel Dae Kim) und Sun (Yunjin Kim) aufmachen, Jack und die übrigen zu befreien, muss Locke (Terry O’Quinn) erkennen, dass er sich geirrt und einen folgenschweren Fehler begangen hat. Sie alle ahnen nicht, wie grundlegend sich ihre Situation in Kürze verändern wird. Dabei erhält die Gruppe, in der Hurley (Jorge Garcia) nach seinem plötzlichen Verlust ebenfalls am Verzweifeln ist, am Strand Verstärkung durch Desmond (Henry Ian Cusick), der, nachdem er auf der Insel strandete, von einem Dharma-Projekt-Mitarbeiter für die Arbeit in der Luke rekrutiert worden war. Sein Schicksal ist eng mit dem von Charlie (Dominic Monaghan) verwoben, der nach seiner Entfremdung hofft, Claire (Emilie de Ravin) näher zu kommen. Dabei hält die Insel stets neue Prüfungen für sie alle bereit …


Kritik:
Die Macher von Lost verstanden es von Anfang an, ihr Publikum sowohl im Unklaren zu lassen über die eigentliche Geschichte, die sie erzählen, aber gleichzeitig genug Interesse zu wecken, damit die Zuschauerinnen und Zuschauer weiterhin am Ball blieben. Nach einem Staffelfinale, das offener kaum sein könnte, kehrt die Mystery-Serie mit Staffel 3 zurück. Dabei sind neue Figuren und bekannte, die mehr zu tun bekommen. Mit wenigen Antworten was die Absichten der „Anderen“ anbelangt, die von Anfang an eine Bedrohung der Überlebenden des Flugzeugabsturzes auf jener Insel darstellten, und neuen Einblicken in die Vergangenheit der zentralen Figuren, baut die Staffel viele Stärken weiter aus. Dass jedoch wieder mehr Fragen aufgeworfen werden, stimmt früher oder später skeptisch.

So kommt irgendwann schlicht der Punkt, an dem man sich fragen muss, weswegen die Figuren statt bei den „Anderen“ nachzuhaken, was all das zu bedeuten hat, sich weiter vertrösten lassen. Nach nunmehr drei Monaten auf dieser Insel und all den seltsamen Dingen, die sie beobachtet haben, sollten die Überlebenden nichts mehr wollen, als Antworten. Wenigstens ergeht es dem Publikum so. Zu Beginn scheint es beinahe, als würde die dritte Staffel einige davon bieten, immerhin nehmen die Anderen einen bedeutend größeren Platz ein, als noch zuvor. In der Rolle von dessen Anführer Benjamin Linus ist Michael Emerson schlicht hervorragend besetzt. Dass er für den Emmy Award nominiert wurde, überrascht nicht. Er verleiht dem mysteriösen Ben trotz seiner rücksichtslosen Überzeugungen und seiner berechnenden Art eine gewisse Tragik, die nicht erst dann hervortritt, wenn er mit „Der Mann hinter dem Vorhang“ seine eigene Episode zugeschrieben bekommt, die seinen Hintergrund erläutert.
Dem Grundkonzept bleibt Lost weiterhin treu und schildert parallel zu den Geschehen auf der Insel in jeder einzelnen Folge einen Rückblick bezogen auf eine Figur. Auf diese Weise werden die einzelnen Charaktere vertieft und außerdem vorgestellt, wie ihre Schicksale miteinander verwoben sind. Dass von den neuen Figuren der Anderen, die nun fester Teil der Erzählung sind, ebenfalls zwei auf diese Weise beleuchtet werden, ist eine gelungene Überraschung. Ebenso die Tatsache, dass zwei Nebenfiguren, die beim Publikum nicht allzu beliebt waren, hier ebenfalls für eine Episode in den Fokus rücken.

Die Haupthandlung auf der Insel teilt sich in mehrere Erzählstränge auf. Während Jack, Kate und Sawyer von den Anderen gefangen gehalten werden, muss das Publikum lange warten, was mit Locke, Desmond, und Eko geschehen ist, die sich in der Luke befanden, als ‚es‘ passierte. Gleichzeitig werden weitere Einrichtungen des Dharma-Projekts entdeckt und man erhält einen Einblick, wie all dies ursprünglich begonnen hat. Die meisten der Antworten – die zwar weitere Fragen hervorrufen, aber immerhin eine Richtung vorgeben – präsentiert Staffel 3 in der zweiten Hälfte, in der die Erzählung spürbar an Tempo gewinnt. Das liegt nicht so sehr daran, dass die Einblicke in die Hintergründe der Figuren nicht interessant wären. Ganz im Gegenteil. Hurley ist nach wie vor eine der liebenswertesten Persönlichkeiten vor Ort, Neuzugang Desmond die vielleicht tragischste Figur. Aber wenn von den fünf zentralen Figuren eine zu Beginn für mehrere Folgen gar nicht zu sehen ist und die drei weiteren sich quasi nicht von der Stelle bewegen (können), dann mag die Story in den vielen pointierten Dialogen zwar weitererzählt werden, aber dadurch, dass die Figuren, deren Schicksal am Meisten interessiert, so verstreut auf der Insel sind, kommt wenig Momentum auf. Umso gelungener ist, was das Staffelfinale in Aussicht stellt, wenn sie alle ein Ziel vor Augen haben.

Dass den Machern durchaus bewusst scheint, dass sie ihr Publikum nicht ewig werden hinhalten können, wird auch daran deutlich, wie manche der Charaktere entwickelt werden. Wer hätte gedacht, dass Sawyer, wenn auch nur kurz und gezwungenermaßen, der Anführer der Gruppe werden könnte? Dass seine große Story-Arc auf unerwartete Weise ein Ende findet, lässt den Machern nicht nur die Freiheit, die Figur weiterzuentwickeln, sondern bietet zumindest einen vorläufigen Abschluss. Auch scheinen die Autorinnen und Autoren aus den vorigen Jahren gelernt zu haben, so dass Abschiede von liebgewonnenen Figuren, wie sie hier zum Ende der Season stattfinden, nicht mehr beiläufig geschehen, sondern das Opfer, das sie erbringen, verdient ist, um der Gemeinschaft insgesamt zu helfen. Das führt sowohl unmittelbar vor als auch im Staffelfinale in Spielfilmlänge selbst zu einigen der berührendsten Momenten der Serie.
Hier ergänzen sich drei Dinge in Lost auf nahtlose, perfekte Weise: Die Figuren sind für sich genommen herausragend geschrieben, mit Schattierungen und Facetten versehen, die sie greifbar machen, so dass sie keine Ritter in schimmernden Rüstungen darstellen. So wie der gescheiterte Rockstar Charlie, der selbst auf der Insel nochmals vom Weg abkommt. Gleichzeitig sind die Charaktere von einer erstklassigen Besetzung verkörpert, bis in die kleinsten Nebenrollen. Sie alle vermögen das Meiste aus der Vorlage zu machen, so dass dank der erstklassigen Inszenierung ihr Schicksal packt. Die befindet sich nach wie vor auf Kino-Niveau mit einem Gespür für Dramaturgie, Szenenaufbau und -zusammenstellung, dass man selbst die ein oder andere verwackelte Einstellung oder die mitunter sichtbaren Trickeffekte gern verzeiht.

Wie in den beiden Jahren zuvor, können all diese Punkte nicht ganz verdecken, dass so interessant die einzelnen Elemente der Serie sind, für sie einen gemeinsamen Nenner zu finden kaum möglich scheint. Ab der Hälfte der Staffel deutet sich zwar an, was mit den Überlebenden des Oceanic-Fluges 815 geschehen ist, was es mit dieser seltsamen Insel auf sich hat, auf der es exotische Tiere und Monster gibt, Ausrüstung aus den 1970er- und 80er-Jahren, aber offenbar keine Möglichkeit, von ihr herunterzukommen, darüber kann man indes nur spekulieren.
Auch in Staffel 3 ist Lost handwerklich ein Musterbeispiel der goldenen Ära des Fernsehens. Trotz manch arg offensichtlicher Blue-Screen-Effekte sind die Episoden bemerkenswert konstant hochwertig produziert. Die wenigen, enttäuschenden Momente machen die Autorinnen und Autoren mit einer Erzählung wieder wett, die an den unvorhergesehensten Stellen überrascht. Vor allem bei den vielen verschiedenen und facettenreichen Figuren, die allesamt mit derart viel Bedacht geschrieben sind, dass es eine Freude ist, ihnen zuzusehen – und dass es dem Publikum das Herz zerreißt, wenn ihre Reise früher endet, als man sich das vielleicht selbst gewünscht hätte.


Fazit:
Obwohl die dritte Season, wie die vorige, an mehreren Schauplätzen spielt, erscheinen die 23 Episoden nicht wie zuvor im übertragenen Sinne ziellos. Dafür kommt ein Handlungsstrang zu Beginn buchstäblich kaum vom Fleck, selbst wenn hierbei in Rückblicken die Hintergründe der Figuren stärker ausgebaut werden, als in den späteren Folgen. Lost: Staffel 3 wartet wie gehabt mit einer fabelhaften Besetzung auf und einem Ensemble an Figuren, das seinesgleichen sucht. Dass nicht nur die etablierten Charaktere beleuchtet werden, sondern mit Juliet und Ben zwei „Andere“, die sich am Ende als vielschichtiger herausstellen, als eingangs vermutet, beweist den Mut der Macher, die TV-Serie in neue Richtungen zu entwickeln. Das ist in der zweiten Hälfte der Staffel packender, wenn die Puzzleteile der Erzählung stärker ineinander zu greifen scheinen und Beziehungen zwischen Figuren hergestellt werden, die man bislang nicht einmal vermuten konnte. So verbergen sich hier mehr erinnernswerte Folgen als in der erste Hälfte der Staffel, doch das bedeutet in Anbetracht der insgesamt starken Erzählung nicht sehr viel.Dass das Finale die geteilte Erzählung mit den Rückblicken auf den Kopf stellt, lässt nur erahnen wohin die Reise in den kommenden Jahren gehen wird. Eine vernünftige Erklärung für all dies zu finden, wird dadurch nicht leichter werden, langweilig wird es dabei wohl aber auch nicht.