Joker [2019]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 11. April 2020
Genre: Drama / Thriller

Originaltitel: Joker
Laufzeit: 122 min.
Produktionsland: USA / Kanada
Produktionsjahr: 2019
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Todd Phillips
Musik: Hildur Guðnadóttir
Besetzung: Joaquin Phoenix, Robert De Niro, Zazie Beetz, Frances Conroy, Brett Cullen, Shea Whigham, Bill Camp, Glenn Fleshler, Leigh Gill, Josh Pais, Rocco Luna, Marc Maron, Sondra James, Murphy Guyer, Douglas Hodge, Dante Pereira-Olson, Carrie Louise Putrello


Kurzinhalt:

Es sind unzählig viele kleine Nadelstiche, die Arthur Fleck (Joaquin Phoenix) jeden Tag erduldet. Sei es, wenn er in seinem Clownskostüm auf der Straße steht, oder ihn die Mitmenschen in der Metropole Gotham City behandeln, als würde er gar nicht existieren. Die Stadt selbst steht kurz vor einem Kollaps mit Unruhen, die immer gewalttätigere Züge annehmen. Der einflussreiche Thomas Wayne (Brett Cullen) scheint die größte Hoffnung, Gotham vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Selbst Arthurs Mutter Penny (Frances Conroy), bei der er wohnt und für die er sorgt, sieht in Wayne als kommendem Bürgermeister einen Rettungsanker. Als Arthur seinen Job verliert und seine Sozialbetreuerin ankündigt, dass er künftig auf sich gestellt sei, bricht stückweise jegliche Stabilität in seinem Leben weg. Wehrt er sich gegen einen erneuten Angriff auf dem Weg nach Hause, überschreitet er dabei eine Grenze, von der es kein Zurück mehr gibt. Seine eigenen Hoffnungen liegen in seiner Nachbarin Sophie (Zazie Beetz) und dem Fernsehmoderator Murray Franklin (Robert De Niro), in dessen Show Arthur gern auftreten würde. Doch um von der Welt ernst genommen zu werden, muss er selbst zum Joker werden …


Kritik:
Todd Phillips’ Joker ist ein in jeder Hinsicht erstklassiger und in vielen sogar überragender Film, dessen größtes Dilemma darin liegt, dass er den Hintergrund einer Figur beschreibt, die keine Erklärung gebraucht hätte. Insofern bleibt, allen preisverdächtigen und preiswürdigen Darbietungen und Elementen zum Trotz am Ende der Eindruck, dass der Blick auf die Entstehung eines abgrundtiefen Soziopathen zwar nicht der Aussage, die er für die Welt an sich darstellt, aber seiner Unberechenbarkeit entgegensteht. Für sich genommen ist das schlicht überflüssig.

Im Zentrum der Erzählung steht Arthur Fleck, der im Verlauf des Films zum Titel gebenden „Joker“ mutiert, der Comic-Fans als einer der hauptsächlichen Antagonisten des Superhelden Batman bekannt ist. In seinem Tagebuch schreibt Arthur, dass er hofft, dass sein Tod mehr Sinn ergeben wird, als sein Leben. Es ist eine Aussage, die sich in einer Welt, die minütlich verrückter zu werden scheint, nur bestätigt. Arthur arbeitet als Clown für eine Agentur und kümmert sich nach Feierabend um seine pflegebedürftige Mutter. Ihr Schicksal, und damit auch seines, ist mit der des wohlhabenden Philanthropen Thomas Wayne verbunden, der für viele in Gotham City für die Hoffnung in der aktuellen Situation steht – für Arthur jedoch genau das Gegenteil bedeutet. Arthur ist jemand, der von den meisten Menschen nicht wahrgenommen wird. Wenn, dann, damit sie sich über ihn lustig machen, wie der Moderator einer Fernsehshow, Murray Franklin, in der Arthur gern auftreten würde, um seine Karriere als Stand-up-Comedian zu beginnen. Als ein Clip eines gescheiterten Auftritts von Arthur in der Sendung gezeigt wird und sich das Publikum über Arthur lustig macht, ist er an einem neuen Tiefpunkt angekommen.

Zu dem Zeitpunkt hat er den ersten Schritt hin zu seinem neuen Ich bereits getan, als er wenige Tage zuvor drei Männer in einer U-Bahn getötet hat, die ihn zuerst verhöhnten und ihn dann angegriffen haben. Was man in Joker hineinlesen soll, lässt Filmemacher Todd Phillips bewusst offen. Sein Drama sein kein sozialkritischer Kommentar, selbst wenn man nicht umhin kann, es anders zu interpretieren. Arthur Fleck gehört zu denen, auf deren Rücken die Mächtigen immer noch mächtiger werden. Dass zeitgleich in Gotham Unruhen das Machtgefüge ins Wanken bringen, die Stadt an einem Scheideweg ist und droht, in Kriminalität zu versinken, könnte nur ein Zufall sein. Doch scheint nicht zu leugnen, dass jemand wie Arthur Fleck in einer Welt ohne moralische Werte, in der ein respektvolles Miteinander nicht möglich erscheint, als Antwort auf die allgegenwärtige Ungleichbehandlung zum Joker wird. Als wäre der Joker das Endprodukt des gesellschaftlichen Zerfalls.
Dass zur Beleuchtung der Entstehung dieser Figur nicht nur gezeigt wird, wie er von Teilen der Gesellschaft mit Füßen getreten wird, oder dass er derjenige ist, der in jeder Situation das Nachsehen zu haben scheint, sondern dass auch in seine Vergangenheit geblickt wird, ist verständlich. Dabei geht Phillips nicht so weit, das Verhalten dieser Figur, seine zerstörerischen Handlungen zu rechtfertigen. Aber er liefert eine Begründung dafür, weshalb er so geworden ist, wie er ist.

Genau darin liegt jedoch das größte Problem der Geschichte selbst. Was die Darstellung des Jokers in The Dark Knight [2008] durch Heath Ledger so verstörend machte, war, dass es ihm ausdrücklich um die Zerstörung jedweder Integrität ging, darum, Chaos und Anarchie als Innbegriff der Existenz zu erzwingen. Dafür musste er alles Gute und die Hoffnung an sich als nicht haltbare Illusion demontieren. Sein Ziel machte ihn ebenso unberechenbar wie unergründlich. Dieser inneren Überzeugung eine Herkunft durch eine Reihe traumatischer Erlebnisse zu verleihen, beraubt die Figur eben ihrer Unbegreiflichkeit. Zumal die Traumata für sich genommen nicht mehr sind als eine Aneinanderreihung von bekannten Elementen und damit geradezu klischeehaft.

In diesem Schatten steht alles, was es in Joker zu sehen gibt. Die Ausstattung, die spürbar an die 1970er- und 80er-Jahre erinnert, ist schlicht fantastisch, die Bilderauswahl so imposant, dass es einem beinahe den Atem nimmt. Sieht man, wie sich Arthur nach jeder Erniedrigung eine steile Treppe hinaufschleppt, er beinahe buchstäblich gebrochen wird durch seine Erlebnisse, könnte dies kein größerer Gegensatz zu dem Bild sein, wenn er nach seiner Verwandlung zum Joker diese Treppe heruntertänzelt – während im Hintergrund ein Lied zu hören ist, dessen Verwendung angesichts der Verurteilung des dahinter stehenden Musiker vor einigen Jahren den Zynismus der Szene geradezu ins Unermessliche steigert. Die Erniedrigungen und Demütigungen haben Arthur auch bildlich zu dem gemacht, der er daraufhin nur werden konnte. Die Oscar-prämierte musikalische Untermalung von Hildur Guðnadóttir trägt unvergleichlich zur Stimmung des Dramas bei und im Zentrum steht eine Darbietung, die ergreifender kaum sein könnte.

So bewundernswert all das für sich genommen ist, stellt man die Frage, ob die Macher hiermit der Figur des Jokers Aspekte hinzugefügt haben, die für seine Wirkung erforderlich oder gar notwendig waren, lautet die Antwort bedauerlicherweise „nein“. Doch das schmälert nicht die Leistungen der Beteiligten – oder die Wirkung der Erzählung selbst.


Fazit:
Hauptdarsteller Joaquin Phoenix ist in der Titelrolle in beinahe jeder einzelnen Szene zu sehen. Dabei fängt die Kamera teils beklemmend nah seine Reaktionen ein. Beginnt er unkontrolliert zu lachen, eine Auswirkung seiner Erkrankung, dann sieht man nicht nur den Punkt, an dem es ihm körperliche Schmerzen zu bereiten scheint, sondern an dem sich das vermeintlichen Lachen in eine regelrechte Verzweiflung wandelt. Als wäre dies seine einzig mögliche Reaktion auf die groteske Situation. Seine Darbietung ist eine kräftezehrende Tour de Force, die ebenso sehenswert wie verstörend ist. Dass sich Filmemacher Todd Phillips gleichzeitig vorbehält, das Gezeigte stellenweise als Einbildung in der Wahnwelt seines Protagonisten zu belassen, macht den Film nur noch unwirklicher. Deshalb und auch auf Grund der kurzen, aber heftigen, brutalen Momente, eignet sich Joker nur für ein erwachsenes Publikum. Der Film ist ein ruhiges, intensives Charakterdrama, dessen durch die Titelfigur surreale Atmosphäre in einer Gesellschaft angesiedelt ist, die nur allzu greifbar erscheint. Preisverdächtig in vielen Belangen, ist das ein sehenswerter Film für sich genommen, und weil er den Schurken des Batman-Universums nicht als Antwort auf diesen facettenreichen Helden, sondern als unumstößliches Ergebnis der Gesellschaft selbst porträtiert. Der Einblick in seinen Werdegang jedoch, macht den Joker an sich nicht beängstigender, sondern nimmt ihm ohne Not einen großen Teil seines Mysteriums. So hervorragend seine Ursprungsgeschichte hier auch dargebracht sein mag, sie klingt zwar nicht für diese Figur, aber insgesamt leider allzu altbekannt.