Mord im Orient Express [2017]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 3. November 2017
Genre: Krimi / Drama / Thriller

Originaltitel: Murder on the Orient Express
Laufzeit: 114 min.
Produktionsland: Malta / USA
Produktionsjahr: 2017
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Kenneth Branagh
Musik: Patrick Doyle
Darsteller: Kenneth Branagh, Daisy Ridley, Josh Gad, Johnny Depp, Michelle Pfeiffer, Penélope Cruz, Judi Dench, Willem Dafoe, Leslie Odom Jr., Tom Bateman, Lucy Boynton, Marwan Kenzari, Olivia Colman, Miranda Raison


Kurzinhalt:

Nach Abschluss eines Falles in Istanbul reist der belgische Meisterdetektiv Hercule Poirot (Kenneth Branagh) mit Hilfe seines Freundes Bouc (Tom Bateman) im "Orient Express" nach London. Schon kurz nach Ankunft am Zug wird er von dem dubiosen Geschäftsmann Ratchett (Johnny Depp) angesprochen, der ihn engagieren möchte. Gleichzeitig macht ihm die offensichtlich wohlhabende Mrs. Hubbard (Michelle Pfeiffer) eindeutige Avancen, während Mary Debenham (Daisy Ridley) selbst beim Smalltalk nicht wie Wahrheit sagt. Als der Zug nach einer Lawine aus den Gleisen springt, wird eine Leiche an Bord entdeckt. Bouc bittet Poirot, den Täter ausfindig zu machen, der sich noch im Zug befinden muss. Widerwillig sagt der Detektiv zu und beginnt mit seinen Befragungen. Aber nicht nur Hector MacQueen (Josh Gad) tischt ihm eine Lüge auf – so mysteriös der Mord selbst ist, so lang ist die Liste der Verdächtigen. Und nicht nur, dass die Zeit läuft, ehe die Strecke wieder freigeräumt wird, der Mörder könnte jederzeit erneut zuschlagen …


Kritik:
So interessant sich die Aussicht einer Kinoadaption des inzwischen bereits viermal verfilmten Agatha Christie-Krimis Mord im Orient Express aus der fähigen Hand von Kenneth Branagh anhört, so ernüchternd war der Einblick, welche die Vorschau vermittelte mit auf modern getrimmter Musik und reißerischer Aufmachung. Umso erfreulicher ist es, dass Branagh, der neben der Regie auch die Hauptrolle übernimmt, den unverwechselbaren Charakter der Romanvorlage behält und den besten Hercule Poirot zum Leben erweckt, den es in beinahe 40 Jahren auf der Leinwand zu sehen gab.

Anstatt die Geschichte unnötigerweise zu modernisieren, fängt der Filmemacher das luxuriöse Flair des "Orient Express" im Jahre 1934 ein. Er stellt seinen Detektiv Poirot als belgische Variante von Sherlock Holmes vor; von sich selbst überzeugt mit einem zwanghaften Ordnungssinn und der Gabe, Zusammenhänge zu erkennen und Schlüsse zu ziehen, wo andere nicht einmal Hinweise entdecken. In der gelungenen Eröffnungssequenz destilliert er alle diese Eigenschaften der Hauptfigur und rundet die persönliche Komponente im Verlauf ab, wenn ein Detail über Poirots Vergangenheit immer wieder aufgegriffen wird.

Nachdem er einen Fall in Istanbul gelöst hat, macht sich Poirot auf die Reise mit dem "Orient Express". Der Zug, dieser kammerspielartige Schauplatz der restlichen Geschichte, wird in einer langen Vorstellung so erstklassig in Szene gesetzt, dass man beinahe übersieht, wie fantastisch Mord im Orient Express auch in diesem Bezug ausgestattet ist. Mit der gelungenen Optik wird sowohl die klaustrophobische Beengtheit der einzelnen Quartiere oder der Gänge eingefangen als auch die noble Weitläufigkeit des Speisewagens. Es werden mehr als ein Dutzend Figuren etabliert, bei denen bereits von Beginn an spürbar wird, dass sich mehr im Hintergrund abspielt, als man zu erkennen gibt. Das verdankt der Krimi vor allem den pointierten Dialogen, die die Reisenden hier begleiten. Sie erzeugen eingangs eine leichtfüßige Atmosphäre, die sich jedoch ab der Hälfte spürbar wandelt und zum Ende hin einen tragischen Aspekt bekommt, mit welchem das Publikum entlassen wird.

Als der Zug auf Grund eines Lawinenabgangs entgleist, wird festgestellt, dass ein Passagier ermordet wurde und der Mörder sich noch unter den Reisenden befinden muss. Doch dieser Fall gestaltet sich schwieriger als irgendeiner, an dem der belgische Meisterdetektiv bislang gearbeitet hat. Im Laufe seiner Befragungen muss er sich mit allen Passagieren des in Frage kommenden Abteils zusammensetzen und versuchen, die Aussagen zu ordnen. Mord im Orient Express ist ein Krimi, der von den Dialogen vorangetrieben wird. Dabei bekommen alle Figuren eine Szene zugeschrieben, in der die Darstellerinnen und Darsteller glänzen dürfen. Daisy Ridley ebenso wie Penélope Cruz, aber auch Johnny Depp macht seine Sache toll. Judi Dench ist ohnehin eine Bereicherung für jede Produktion, ebenso wie Willem Dafoe. Eine wirkliche Überraschung ist Josh Gad, der oft in amüsanten Rollen zu sehen ist, hier aber einen schwierigen Moment sehenswert meistert. Sie alle stehen nicht in dem Maße im Mittelpunkt, wie es bei vielen anderen ihrer Filme der Fall ist, doch das ist der Geschichte selbst geschuldet. Michelle Pfeiffers fantastischer Auftritt setzt einen Schlusspunkt, der für Gänsehaut sorgt.

Schließlich ist da auch noch Kenneth Branagh selbst in der Rolle des Hercule Poirot. Er präsentiert den Detektiv als überhebliche, mitunter garstige und scharfsinnige Person, die eben durch ihre Eigenheiten (wenn man nicht Macken sagen möchte) interessant wird. Der Akzent der deutschen Synchronstimme passt hervorragend, selbst wenn sie eingangs gewöhnungsbedürftig klingen mag. Trotz des prominenten Schnurrbarts, der gleichermaßen Markenzeichen der Figur ist, verblüfft seine Darbietung durch eine vielschichtige Mimik, deren Aussagekraft in seinem Blick gründet.
All das rundet Mord im Orient Express als erlesen besetzten, fantastisch eingefangenen Krimi ab für ein Publikum, das die Zwischentöne der gesprochenen Zeilen zu schätzen weiß, anstatt die Lösung haarklein aufgedröselt zu bekommen. Das anzusehen ist im besten Sinne so altmodisch und unaufgeregt zugleich, dass man nur hoffen kann, die Andeutung am Ende ist ein Versprechen – denn diesen Detektiv erneut bei der Arbeit beobachten zu dürfen wäre etwas, worauf man sich freuen könnte.


Fazit:
Regisseur Kenneth Branagh bringt Agatha Christies Krimi mit einem ansteckenden Charme auf die Leinwand und behält gleichzeitig die Aussage des Romans bei. Herausgekommen ist ein Film, der sich an ein älteres Publikum richtet. Nicht auf Grund von Gewalt oder einem Gefühl der Nostalgie, sondern dadurch, dass sich die Geschichte auf Dialoge statt Action konzentriert, um die Handlung voranzubringen. Die Optik ist erstklassig mit vielen Kamerafahrten und Perspektiven, die sich nicht nur die Architektur des Titel gebenden Zuges zunutze machen, sondern beispielsweise auch durch Lichtbrechungen im Glas des Interieurs das Gefühl erzeugt, als wäre das Publikum mit im Wagen. Vor allem besitzt Mord im Orient Express einen eingangs unbeschwerten Rhythmus, der sich der Story entsprechend verändert und anpasst. Das ist für Krimifans ein Fest. Einziger Wermutstropfen hierbei ist, dass sich der Filmemacher sehr an der Vorlage orientiert und diejenigen, die damit vertraut sind, kaum Überraschungen erwarten. Dafür zeichnet gerade die Besinnung auf die Werte des Buches diese beeindruckend ausgestattete, erfrischend klassische Adaption mit Star-Besetzung aus.